Berlin. Nein, bewegt ist die Dame nicht. Eher etwas erstaunt, als könne sie es noch immer nicht glauben, dass und wie alles gekommen ist. Für die frühere DDR-Bürgerin war dieses Haus einst tabu, bauliches Symbol der Macht. Nun, beim Tag des Offenen Denkmals, betritt sie das frühere Staatsratsgebäude im Osten Berlins, nimmt Platz in einem der schwarzen Ledersessel in einem Raum, der früher das Büro von Machthaber Erich Honecker war. Anschaulicher lässt sich nicht darstellen, was sich in den Jahren 1989/90 verändert hat.
Rückblick: Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Osten Deutschlands sowjetisch besetzte Zone. Dort wird am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik ausgerufen. Und die bekommt auch ein Staatsoberhaupt: den Präsidenten der DDR, gewählt von der Volkskammer und der Länderkammer. Wobei „gewählt“ ein großes Wort ist: Die Staatspartei, die kommunistische SED, bestimmt, wer Präsident wird.
Erster Amtsinhaber ist Wilhelm Pieck, in der Kaiserzeit Sozialdemokrat, in der Weimarer Republik Kommunist. Macht hat er kaum, denn die liegt bei der SED und deren Chef Walter Ulbricht. Im Unterschied zu diesem ist Pieck im Volke aber begrenzt beliebt, mit seiner großväterlichen Erscheinung – bei Amtsantritt steht er im 74. Lebensjahr – ähnlich wie Theodor Heuss im Westen eine Integrationsfigur des neuen Staates.
Seinen Amtssitz erhält Pieck im Barockschloss Schönhausen im Berliner Vorort Pankow, 1740 bis 1797 Wohnsitz der Königin Elisabeth Christine, Gattin von Friedrich des Großen (der selbst in Potsdam lebt). Hier hält Pieck Hof, empfängt Nordvietnams Führer Ho Chi Minh und Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow.
Walter Ulbricht will einen Amtssitz im Stadtzentrum
Am 7. September 1960 stirbt Pieck mit 84 Jahren, nachdem er das letzte Amtsjahr bereits im Rollstuhl sitzt. Genug Zeit also für seine Partei zur Nachfolge-Regierung. Und die besteht darin, gleich das ganze Amt des Präsidenten abzuschaffen; es mutet zu bürgerlich an. Stattdessen kreiert man nach Vorbild der UdSSR und ihres Obersten Sowjets ein kollektives Staatsoberhaupt: den Staatsrat, „gewählt“ von der SED-beherrschten Volkskammer. Der Vorsitzende dieses Staatsrates ist fortan nominell das Staatsoberhaupt der DDR. Klar, wer das wird: Parteichef Ulbricht.
Infos und Tipps
- Lage: Im Zentrum Berlins, gegenüber dem vor kurzem wiederaufgebauten Stadtschloss („Humboldt-Forum“), Navi-/Post-Adresse: Schlossplatz 1.
- Gestaltung: Im Inneren ideologisch geprägt: Ein Glasbild, das sich vom Foyer aus, den Treppenaufgang entlang über die gesamte Gebäudehöhe erstreckt, stellt die Geschichte der Arbeiterbewegung aus Sicht der SED dar. Das zweite OG beherbergt den Festsaal mit dem – aus unzähligen Mosaiksteinen gefertigten – Staatswappen der DDR sowie den Bankettsaal mit einem 35 Meter langen Bildfries aus Meißener Porzellan mit dem Titel „Das Leben in der DDR“.
- Amtsräume: Das frühere Büro des Staatsratsvorsitzenden ist riesig und heute eine Lounge mit Getränkeautomaten. An der Wand rechts befindet sich eine Tür. Sie führte zur Privatwohnung Erich Honeckers, die jedoch nicht erhalten wurde. Sie ist auch nicht zu besichtigen.
- Besonderheit: Das mit Ziegenleder ausgeschlagene Foyer im ersten OG. Diese Ledertapete war ein Geschenk der Sowjet-Teilrepublik Kirgisien.
- Historisches Portal: Der von der SED als Liebknecht-Balkon bezeichnete Balkon aus dem Stadtschloss darf nicht betreten werden. Grund: Die Brüstung ist 10 cm tiefer als von den Sicherheitsrichtlinien gefordert.
- Besichtigung: Zugänglich sind das Foyer im Erdgeschoss, die kleine verglaste Cafeteria mit roten Doppelsesseln und der Garten mit Bänken und mosaikverziertem Wasserbecken. Der Rest auf Grund des hiesigen Studienbetriebes nur zu regelmäßigen Führungen, z. B. am Tag des Offenen Denkmals. Infos: esmt.berlin -tin
Und der will statt des bisherigen Amtssitzes in der Peripherie einen im Zentrum der Stadt. Und so wird dessen Bau beschlossen. Standort: Marx-Engels-Platz gegenüber dem früheren, mittlerweile abgerissenen Schloss – direkt neben der Zentrale der SED (heute Auswärtiges Amt).
Bereits 1961 wird das Gelände planiert, das dortige Wohnquartier abgerissen, darunter einige der ältesten Gebäude Berlins, dabei weder auf Denkmalschutz noch auf Eigentumsrechte Rücksicht genommen. Doch der Untergrund ist morastig, und so müssen 800 Betonpfähle in den Boden gerammt werden, um ein ausreichendes Fundament zu schaffen für den Stahlskelettbau von 150 Metern Länge und 25 Metern Höhe aus Sandstein und Granit.
Die Fassade wird, an der Höhe des früheren Schlosses ausgerichtet, mit hohen rechteckigen, an Fahnen-Banner angelehnten Feldern aus roten Rhyolith verkleidet – das alles soll an Rote Fahnen erinnern. Doch in diese Frontfassade kommt auf persönlichen Wunsch von Ulbricht eine historische Reminiszenz: das Portal IV des 1950 auf seine Anordnung hin gesprengten Stadtschlosses.
Vom Balkon dieses Portals, 1706 von Andreas Schlüter konzipiert, soll Karl Liebknecht am 9. November 1918 die Sozialistische Republik ausgerufen haben. Die Botschaft: Was dem 1919 von Rechtsradikalen ermordeten Karl Liebknecht verwehrt bleibt, wird nun von der SED verwirklicht. Doch wie vieles in der DDR, so basiert auch dies auf einer Lüge: Liebknecht steht 1918 eben nicht auf dem Balkon, sondern vor dem Schloss, auf dem Dach eines Sanitätswagens. Und auch die architektonische Lösung tut dem Auge des Betrachters bis heute weh. Der Einbau erfolgt nämlich nicht symmetrisch: Links vom Portal liegen sieben, rechts drei Fensterachsen.
Der Neubau soll zum 15. Jahrestag der Gründung der DDR (7. Oktober 1964) fertig sein. Bereits am 3. Oktober, 11 Uhr, nimmt Ulbricht den Hausschlüssel in Empfang. Vier Tage später steigt hier der Empfang zum Republik-Geburtstag mit Leonid Breschnew, Staatsoberhaupt der Sowjetunion und sieben Tage später auch Parteichef. Doch es bleibt bei Besuchern aus dem Ostblock. Nur sie können hier mit Geschirr aus der thüringischen Porzellanmanufaktur Reichenbach und Besteck im Rokoko-Stil bewirtet werden. Denn noch ist die DDR international isoliert.
Anfang der 1970er Jahre ändern sich die Zeiten: Entspannung ist angesagt. Damit auch der alte Ulbricht ein Mann von gestern. Sein Zögling Erich Honecker holt sich in Moskau grünes Licht, ihn zu entmachten. Am 26. April 1971 fährt er, begleitet von mit Maschinenpistolen bewaffneten Stasi-Leuten, zum Sommersitz Ulbrichts nach Groß-Dölln. Dort lässt er alle Ausgänge besetzen und die Telefonleitungen kappen. Derart bedrängt, muss Ulbricht seinen Rücktritt als Parteichef unterzeichnen.
Doch Vorsitzender des Staatsrates darf er bleiben. Was zeigt, wie unwichtig das Amt im Machtgefüge der DDR ist. Nach Ulbrichts Tod 1973 schiebt Honecker daher seinen innerparteilichen Rivalen Willi Stoph auf diesen Posten ab. Doch auch das Gebäude selbst wird unwichtiger: Ab 1976 wird der Palast der Republik direkt gegenüber Schauplatz der meisten Hauptstaatsaktionen der DDR.
Bald wird das Amt jedoch wieder interessant. Die DDR ist mittlerweile von gut 100 Staaten anerkannt, immer mehr Diplomaten fahren in ihren Limousinen am Staatsratsgebäude vor, um ihre Akkreditierung zu erhalten. Honecker erkennt die Möglichkeiten zur Selbstdarstellung, die das Amt bietet, übernimmt es daher 1976 zusätzlich zur Parteiführung. Als Staatsoberhaupt wird er 1987 sogar in Bonn empfangen.
Doch schon zwei Jahre später beginnt die Friedliche Revolution. Nun ist es Honeckers alter Rivale Willi Stoph, der im Politbüro seine Absetzung beantragt. Egon Krenz wird am 24. Oktober 1989 sein Nachfolger in beiden Ämtern. Doch nicht für lange. Bereits am gleichen Tage ziehen Tausende Demonstranten von der Gethsemanekirche zum Staatsratsgebäude und fordern: „Egon, zeig’ Dich!“ Doch Krenz ist nicht im Gebäude – und bald auch ganz weg.
Für einige Jahre Kanzleramt des wiedervereinigten Landes
Im Dezember 89 wird Manfred Gerlach, Vorsitzender der Liberalen, einer der Blockparteien, Staatsratsvorsitzender und kann als solcher sogar den französischen Präsidenten Mitterrand empfangen. Doch die im März 1990 erstmals frei gewählte Volkskammer schafft den Staatsrat sofort ab. Deren Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) fungiert nun als Staatsoberhaupt; eine wichtige Amtshandlung: die offizielle Entschuldigung im Namen der DDR an die Juden in aller Welt für jahrzehntelange israelfeindliche Haltung.
Am 3. Oktober 1990 – exakt dem 26. Jahrestag der Einweihung des Staatsratsgebäudes – ist Schluss mit der DDR und dem Haus. Das Bonner Bauministerium richtet ein Infozentrum zu den Baumaßnahmen ein, die nach dem Hauptstadt-Beschluss des Bundestages geplant sind. 1997 zieht hier die Außenstelle des Kanzleramtes ein, bis dessen Neubau am Reichstag 2001 fertig ist. Danach darf die Band Rammstein hier ihr Video zum Song „Ich will“ drehen.
Ab 2003 wird das unter Denkmalschutz gestellte Haus für 35 Millionen Euro restauriert. Erhalten bleiben sogar die Machtsymbole der SED, darunter das DDR-Wappen. In seinem Angesicht studieren nun künftige Führungskräfte des „Kapitalismus“ aus 35 Nationen in englischer Sprache. Denn seit 2006 arbeitet hier die European School of Management and Technology (ESMT).
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