Heiligabend. Manchmal haben die Eltern mit einem kleinen Glöckchen geklingelt. Jedenfalls bleibt die Wohnzimmertür zu, bis sie feierlich geöffnet wird – und damit der Blick frei ist auf den Weihnachtsbaum und die Geschenke. Wobei „die“ Geschenke, also Mehrzahl, schon eine Ausnahme ist. Und oft verschwinden diese Geschenke wieder nach den Feiertagen. Das ist zumindest oft Brauch in jener Zeit um die vorige Jahrhundertwende, in die derzeit die Sonderausstellung „Kinderträume“ der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen die Besucher zurückkatapultiert. Aber es ist eben nicht alles gut in dieser guten alten Zeit.
„Spielwaren waren um 1900 in Deutschland noch nicht so weit verbreitet wie heute“, erklärt Eva-Maria Günther, die Direktorin der Stiftungsmuseen und Kuratorin der Ausstellung. Die meisten Spielzeuge seien teuer und nur für wohlhabendere Familien erschwinglich gewesen. „Auch die Sitte des Schenkens entwickelte sich erst ab dem Biedermeier richtig“, verweist sie auf die Zeitspanne zwischen etwa 1815 und 1848. Dabei seien natürlich zunächst bei wohlhabenderen Familien Geschenke gemacht worden, und im Verlauf des 19. Jahrhunderts habe sich das dann weiter ein eingebürgert – aber sehr abhängig von der jeweiligen Schicht der Eltern.
Bescheidener als heute
In wohlhabenderen Haushalten bekommen die Kinder neben pädagogisch wertvollen Dingen wie Musikinstrumenten oder Gebetbüchern erstmals Spielzeug. In einer einfachen Bauers- oder Arbeiterfamilie müssen ein paar Haarschleifen für die jüngere Tochter, eine Haarspange, ein Kamm und ein Spiegel für die große Tochter reichen, während es für die Söhne neue Schuhe oder einfach einen Ball gibt. „Es ist alles viel bescheidener als heute“, betont Eva-Maria Günther, „oft bekam nur die Puppe ein neues Kleid oder ein Bett, der Teddy wieder beide Arme und der Holzroller wurde neu gestrichen, dazu eine Hand voll Kekse – das musste reichen“, weiß sie auch aus vielen Zeitzeugenberichten, die das Museum anlässlich der Ausstellung erreicht haben.
Gerade Puppenstuben, Puppenküchen, Kaufläden und Eisenbahnen seien nicht immer verfügbar gewesen. „Sie wurden das Jahr über versteckt und somit auch geschont“, so Günther. „Man hat sie meist über Generationen vererbt, zu Weihnachten aufgefrischt, neu bestückt und ergänzt“, berichtet sie. Entstaubt und modernisiert seien sie jährlich zu den Feiertagen im neuen Glanz versetzt, Ausstattungen oder Zuckernaschereien im Kaufladen oder neues Zubehör in den Küchen hinzugefügt worden.
Die Zeit, zu der sie wieder verschwinden und zugleich der Christbaum abdekoriert wird, ist zu jener Zeit je nach Familie und Gegend unterschiedlich. Manche ältere Menschen erinnern sich noch heute, wie sie versucht haben, ein paar Tage mehr auszuhandeln. . . Die Spanne reicht von direkt nach den Zweiten Weihnachtsfeiertag über Neujahr oder bis zum Dreikönigstag, in einigen Familien auch spätestens zu Maria Lichtmess (2. Februar), früher das kirchliche Ende der Weihnachtszeit. Dann naht das Frühjahr, wenn es wärmer wird und man wieder draußen spielen kann.
Kisten mit den Puppenstuben, Kaufläden oder Eisenbahnen warten nun im Keller oder auf dem Dachboden auf ihren nächsten großen Auftritt am darauffolgenden Weihnachtsfest. „Nur kleinere Spielsachen wie Bälle oder Puppen durften die Kinder über das Jahr hinweg behalten“, so Günther, „doch auch hier gab es Ausnahmen“. So sei es bei manchen besonders teuren Puppen den Mädchen nur am Sonntag oder unter Aufsicht erlaubt gewesen, mit ihnen zu spielen, „denn die mussten geschont werden oder waren sehr prächtig und wertvoll, etwa mit echten Haaren versehen“.
Der Grund für das Wegpacken sei zum Teil auch in der Größe der Spielwaren gelegen. „Nicht jeder hatte in seiner Wohnung Platz zum Aufstellen einer großen Puppenstube“, so Günther. Um die Jahrhundertwende hätten meist nur Kinder begüterter Familien über umfangreiches Spielzeug verfügt. „Kinderzimmer, in denen gespielt wurde, waren lediglich für einen kleinen Teil der Bevölkerung Realität“, so Günther. Der Nachwuchs der weniger wohlhabenden Familien habe oft außerhalb der Wohnräume spielen müssen, da diese in der Regel beengt und dunkel gewesen seien.
Aber letztlich zieht sich das durch alle Schichten, dass die Kinder raus müssen ins Freie, wenn es irgendwie geht, und nicht in den Wohnungen sitzen. Besonders beliebt sind Reigentanz oder Kreisspiele, Spiele mit Bällen, Murmeln, Kreiseln oder Reifen. Im Herbst ist das Steigenlassen von Drachen üblich, im Winter Eislaufen oder Schlittenfahren.
Rollenbilder einüben
Natürlich haben nicht alle Schlittschuhe oder Schlitten. „Aber dann reichten eben natürliche Materialien, etwa Stöcke und Steine, zum Spielen, und es gab vieles, was ohne ein Hilfsmittel ging wie Blindekuh, Bockspringen, Turnen oder Hüpfspiele. Puppen, Blechspielzeuge oder Bücher dürften indes nicht mit ins Freie genommen werden. „Derartige Dinge waren rar und teuer und wurden an jüngere Geschwister oder andere Verwandte weitergegeben“, so Eva-Maria Günther.
Dabei dient Spielzeug zu jener Zeit auch dazu, Rollenbilder zu zementieren. „Gerade Mädchen wurden für ihre spätere Rolle erzogen“, sagt Eva-Maria Günther: „Herde, kleine Nähmaschinen und Töpfe spiegelten die Welt der Erwachsenen wieder, auf die sie vorbereitet werden sollten“. „Sie dienen dem frühen Erlernen von Eigenschaften, die mit klassisch weiblichem Verhalten in Verbindung gebracht wurden“, ergänzt Kunsthistoriker Andreas Krock, ebenso tätig in den Reiss-Engelhorn-Museen und dort der Experte für die „Belle Epoque“ genannte Zeit.
Häuslichkeit, Ordnungssinn, aber auch die Fähigkeit, den eigenen Hausstand vor der Außenwelt zu schützen, zählt er als solche Eigenschaften auf. Frauen hätten seinerzeit „dafür zu sorgen gehabt, dass der viel beschäftigte Ehemann von den Kleinigkeiten und Unannehmlichkeiten des Familienalltags verschont blieb“, so Krock schmunzelnd. „Gewissermaßen bildeten die Puppenhäuser im Kleinen den gesamten Kosmos des elterlichen Hauses vom Keller bis zum Dachboden ab“, erklärt er. Sie spiegelten die bürgerlichen Lebensformen wieder. „Höhere Töchter erlernten dadurch häusliche Dinge wie das Einrichten des Privatbereichs oder das Schaffen von Geborgenheit und Behaglichkeit im eigenen Heim“, wenngleich sich die Kreativität darauf beschränkt habe, die Stuben ein- und wieder auszuräumen.
„Das Rollenmodell forderte von Frauen Sparsamkeit., Ordnung, Häuslichkeit und Frömmigkeit“, so Eva-Maria Günther: „Männer dagegen galten als Versorger und Repräsentanten in der Öffentlichkeit.“ Während die Puppenküchen als Spielzeug für Mädchen vorgesehen gewesen seien, hätten sich die Hersteller von Kaufläden an Kinder beider Geschlechter gewandt. Dabei geht es für die Mädchen aus feinerem Hause nicht darum, selbst das Waschen zu lernen – aber sie sollen wissen, wie es geht, damit sie das Dienstmädchen oder die Waschfrau beaufsichtigen können.
Meist habe es sich bei Puppenstuben um handwerklich gefertigte Einzelstücke oder Arbeiten innerhalb der Familien gehandelt, während die serielle Produktion erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzt. Aber die Ausstattung ist teils höchst kostbar, gibt es doch neben Geschirr aus Kupfer, Messing und Keramik auch viele Porzellanminiaturen oder Zinngerätschaften wie Leuchter, Vasen und Zierteller. „Die Küchengeräte, regelmäßig blank gescheuert oder poliert, waren Reichtum und Schmuck der Küche und Stolz jeder Besitzerin“, so Eva-Maria Günther.
Wiegen und zahlen
Für Jungs habe es aber insgesamt variationsreicheres Spielzeug gegeben, findet Krock: „Söhne aus gut situierten Familien spielten mit Kaufläden, wurden aber ebenso für technische Entwicklungen oder sogar für den Krieg durch entsprechendes Spielzeug sensibilisiert“. Dampfmaschine, Blecheisenbahn und Bausteinkästen – auch das alles zeigen die Reiss-Engelhorn-Museen derzeit – hätten auf technische Begabung und Geschicklichkeit abgezielt. Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich 1871 sei die Rollenfixierung der Jungs im neuen deutschen Kaiserreich zunehmend auf Militär und Tugenden wie Tapferkeit ausgerichtet gewesen – wozu dann eben Ritterburgen dienen oder Zinn- und Bleisoldaten.
Die Pädagogik schwingt immer irgendwie mit. So spielen in Puppenküchen oft kleine Waagen – meist einfache Balkenwaagen – beim Backen und Kochen eine wichtige Rolle, um Zutaten genau bestimmen zu können. So lernt der Nachwuchs früh den Umgang mit Maßen und Gewichten. Auch Geld wird früh wichtig, daher dürfen kleine Kassen und Münze sowie Scheine in den Kaufläden nicht fehlen.
Dabei bildet ab 1871 bis zur Inflation in den 1920er Jahren die Mark, unterteilt in 100 Pfennige, die Währung des Deutschen Reiches. „Die Kaufkraft einer Mark zwischen 1873 und 1913 entsprach im Durchschnitt etwa sieben Euro heute“, hat Wilfried Rosendahl, Generaldirektor der Reiss-Engelhorn-Museen, ausgerechnet. Um 1900 kostet ein Brötchen 26 Pfennig, 500 Gramm Butter oder 500 Gramm Wurst 1,20 Mark, ein Kilo Bohnen 20 Pfennig.
Spielzeug ist viel teurer: So werden für eine kleine Dampfmaschine etwa 20 Mark fällig. Auch sogenannte Kolonialwaren sind kostbar – Kakao ist für 2,40 Euro zu haben, pro 500 Gramm. Solche Produkte gibt es nur in „Kolonialwarenläden“, also besseren Einzelhandelsgeschäften, die exotischere Waren wie Kaffee, Tee, Rohrzucker und Gewürze im Angebot haben. Der Trend zu solchen Läden wirkt sich auch im Kinderzimmer aus, denn nun nehmen die Kaufläden für den Nachwuchs immer mehr den Charakter von Kolonialwarenläden an.
Schließlich verraten Puppenküchen und Kaufläden viel über den Speiseplan in der Zeit um 1900. Der ist natürlich abhängig vom Einkommen, und lange bilden pflanzliche Lebensmittel und nicht etwa Fleisch die Grundlage der Ernährung. Sichtbar an Miniaturkonserven und kleinen Schächtelchen ist, wie sehr im ausgehenden 19. Jahrhundert Fertiglebensmittel auf den Markt drängen. Plötzlich taucht da überall Maggi oder Knorr auf. Die Brühwürfel oder die Erbswurst seien der Beginn der industriell gefertigten Lebensmittel, so Günther.
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