Berlin. An seinen ersten Eindruck von dem Gebäude erinnert sich Eberhard Diepgen noch genau. „Die Diensträume sind sehr repräsentativ“, berichtet der CDU-Politiker, der zehn seiner 15 Dienstjahre als Regierender Bürgermeister von Berlin hier residiert: „Der Blick aus dem Amtszimmer fällt auf einen großen Platz und die Marienkirche“, erzählt der 81-Jährige dem Autor: „Ein wenig nach rechts beugen muss man sich, dann sieht man den Fernsehturm.“
Egal wer die Abgeordnetenhauswahl am Sonntag gewinnt – er oder sie wird im Roten Rathaus residieren. Dem Spiegelbild der Geschichte Berlins, ja Deutschlands über fünf Systeme: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazi-Zeit, DDR-Diktatur sowie Wiedervereinigung mit Freiheit für ganz Berlin, ganz Deutschland.
Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich Preußens Residenzstadt zur Metropole. Diesem Anspruch genügt das in seinem Kern mittelalterliche Rathaus nicht mehr. 1857 wird ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, damals durchaus treffend „Konkurrenz“ genannt, um „ein der Bedeutung der Stadt würdiges Monument“ zu schaffen.
Höher als das Stadtschloss des Kaisers in Berlin
Die Creme de la creme der Architekten ganz Europas beteiligt sich, so etwa Friedrich von Schmidt, der „Vater“ des Wiener Rathauses. Das Rennen macht jedoch ein eher Unbekannter aus der preußischen Bauverwaltung: Hermann Waesemann. Sein Entwurf sieht einen Bau im Stil der italienischen Renaissance vor.
Die Bauarbeiten dauern mehr als zehn Jahre, beginnend mit dem Sockel aus schlesischem Granit, verblendet mit rotem Klinker. Parallel wird der Vorgängerbau abgetragen und der Neubau sukzessiv bezogen, 1871, fast punktgenau zur Reichsgründung, eingeweiht.
Das Gebäude gilt als Zeichen des bürgerlichen Stadtstolzes der Berliner im 19. Jahrhundert, wie Historiker betonen. Schon das Aussehen hinterlässt einen gigantischen Eindruck – mit einem quadratischen Grundriss von jeweils 99 Metern Seitenlänge. Der Turm ist höher als das nahe Stadtschloss des Kaisers, misst 74 Meter bis zur Brüstung und 94 Meter bis zur Spitze, das Zifferblatt der Uhr fast fünf Meter Durchmesser, der Stundenzeiger 1,30 Meter.
Die Goldenen Zwanziger Jahre über amtiert hier der aus Hessen stammende Gustav Böß, Mitglied der DDP (Vorgängerin der heutigen FDP), 1921 mit den Stimmen der SPD gewählt und damit Exponent jener Weimarer Koalition, die anfangs die erste deutsche Republik trägt. Böß holt Kultur in seinen Amtssitz, gründet 1924 die Rathaus-Konzerte.
Von Nazis sinnentleert - jede kommunale Selbstverwaltung schwindet
1929 muss er zurücktreten, als seine Frau einen kostbaren Pelzmantel zu einem Spottpreis ergattert – Randerscheinung des Sklarek-Skandals, des größten der Weimarer Republik. Die Sklarek-Brüder sind Juden – Wasser auf die Mühlen der Nazis, die in der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise ohnehin großen Zulauf haben.
Mit deren reichsweiter Machtübernahme 1933 verschwindet auch in Berlin jede kommunale Selbstverwaltung und damit auch die Bedeutung des Rathauses. Dort regiert seit 1931 der Deutschnationale Heinrich Sahm, ein Anhänger Hindenburgs. 1933 tritt er der NSDAP bei, die ihn daher in seinem Amt belässt, das ohnehin kaum noch Befugnisse besitzt. Als 1935 bekannt wird, dass Sahm weiterhin Kunde jüdischer Geschäfte bleibt, wird er als Botschafter nach Oslo weggelobt, wo er stirbt.
Sein Nachfolger wird der Nationalsozialist Julius Lippert, der schon vorher im Roten Rathaus das Sagen hat. Er „säubert“, wie die Nazis dies nennen, die Berliner Verwaltung, entlässt jüdische und sozialdemokratische Mitarbeiter. 1940 verliert er den internen Machtkampf innerhalb der Berliner NSDAP gegen Albert Speer, den Generalbevollmächtigten für den Ausbau der Reichshauptstadt, und wird entlassen.
Sitz des SED-Statthalters
Am Ende des Krieges liegt das Rote Rathaus zur Hälfte in Trümmern, noch vier Tage nach der Kapitulation brennt die wertvolle Bibliothek aus. Unbeschädigt bleibt die Bronzestatue von Kaiser Wilhelm I. am Haupteingang; sie wird dennoch entfernt.
Acht Tage nach Kriegsende ernennt der sowjetische Stadtkommandant Bersarin den parteilosen, fast 70-jährigen Bauingenieur Arthur Werner zum Oberbürgermeister von Groß-Berlin. Am 20. Oktober 1946 finden die ersten Wahlen zu einer neuen Stadtverordnetenversammlung statt. Die SPD liegt vor der CDU und den Kommunisten der SED, stellt die Stadtregierung.
Am 30. November 1948 jedoch erklärt die SED-Fraktion die kranke Oberbürgermeisterin Louise Schröder für abgesetzt und ihren eigenen Parteimann Friedrich Ebert jr. zum Oberbürgermeister. Die sowjetische Kommandantur erkennt ihn an. Als Schröders Stellvertreter Ferdinand Friedensburg als amtierender OB seine Diensträume betreten will, stellt sich ihm die Polizei in den Weg.
Wenige Tage später, am 5. Dezember 1948, wählt die Bevölkerung der Westsektoren eine neue Stadtverordnetenversammlung, die den Sozialdemokraten Ernst Reuter einstimmig zum Oberbürgermeister bestimmt. Seit der neuen Westberliner Verfassung von 1950 führt er den Titel „Regierender Bürgermeister“.
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Die Teilung führt also zu zwei Stadtverwaltungen mit zwei Amtssitzen: Im Ostteil, von der DDR als ihre Hauptstadt auserkoren, wird das Rote Haus zum Dienstsitz bestimmt, wieder hergerichtet und am 30. November 1955 durch Ost-Oberbürgermeister Ebert eingeweiht. Der Sohn des gleichnamigen Reichspräsidenten amtiert fast 20 lange Jahre bis 1967. In seine Amtszeit fallen die Sprengung des Stadtschlosses 1950 und der Mauerbau 1961.
Kontrast in Schöneberg: Sitz des Senats von West-Berlin
Der demokratisch legitimierte Senat von West-Berlin nimmt seinen Sitz im dagegen beschaulichen Bezirks-Rathaus von Schöneberg. Hier bezieht Ernst Reuter am 7. Juni 1949 sein Büro. In der Amtszeit seines Nach-Nachfolgers Willy Brandt erlebt das Gebäude seine größte Stunde. Am 26. Juni 1963 hält US-Präsident John F. Kennedy vor Hunderttausenden seine Rede mit dem berühmten Satz „Ich bin ein Berliner“. Am Abend seiner Ermordung fünf Monate danach versammeln sich an gleicher Stelle erneut Tausende. Im Dienstzimmer folgen Persönlichkeiten wie Hans-Jochen Vogel (SPD) oder Richard von Weizsäcker (CDU).
Mehr erfahren über das Rote Rathaus in Berlin
Lage: Im Ost-Teil der Stadt zwischen Fernsehturm und Stadtschloss. Navi-Adresse Jüdenstraße 1.
Erreichbarkeit: Direkt vor dem Roten Rathaus besteht seit Ende 2020 ein U-Bahnhof als Teil der Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor.
Ausstattung: Wappensaal (Empfangssaal für Staatsgäste), Festsaal (größter Raum im Gebäude), Säulensaal (frühere wertvolle Bibliothek, die im Mai 1945 ausbrannte), Galerie der Ehrenbürger (3. Etage).
Besichtigung: Tagsüber zugänglich, Ausnahmen: bei sicherheitsrelevanten Veranstaltungen. Daher wird empfohlen, zuvor telefonisch unter (030) 9026-2032 anzufragen, ob das Rathaus für Besucher geöffnet ist.
Führungen: Für Gruppen angeboten. Nähere Informationen/Anmeldung unter Telefon (030) 9026-2411 oder per E-Mail unter presse-information@senatskanzlei.berlin.de.
Literatur: „Das Rote Rathaus in Berlin. Eine politische Geschichte“ von Thomas Flemming, Gernot Schaulinski und Bernd Ulrich, erschienen 2019, 448 Seiten mit 167 Abbildungen, Jaron-Verlag Berlin, 38 Euro.
Im Roten Rathaus residierten: Oberbürgermeister von Berlin-Ost (ab 1949 „Hauptstadt der DDR“): 1948-1967 Friedrich Ebert jr. (SED) 1967-1974 Herbert Fechner (SED) 1974-1990 Erhard Krack (SED) 1990 Tino Schwierzina (SPD)
Regierende Bürgermeister des wiedervereinigten Berlins: 1991-2001 Eberhard Diepgen (CDU) 2001-2014 Klaus Wowereit (SPD) 2014-2021 Michael Müller (SPD) seit 2021 Franziska Giffey (SPD) -tin
Seit acht Monaten regiert hier der SPD-Mann Walter Momper, als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fällt – was ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, zur Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins führt. Doch es dauert ein weiteres Jahr, bis die Stadtregierung des nun wiedervereinigten Berlins ins Rote Rathaus zurückkehrt – in der Amtszeit des Christdemokraten Eberhard Diepgen und nach einem „heftigen Streit mit dem Architekten“, wie Diepgen sich erinnert. „Er wollte sich in vielen Details wiederfinden.“
Unter Diepgen erlebt das Haus glanzvolle Momente: George Bush sen. und Michael Gorbatschow zeigen sich 1999 nach Verleihung der Ehrenbürgerwürde mit Helmut Kohl auf dem Balkon. „Nicht vergessen werde ich auch den lebensgefährlichen Moment“, so Diepgen, „als der volltrunkene russische Präsident Jelzin die große Freitreppe runter stolperte und sich an mir – im Vergleich sehr schmächtig – festhielt.“
Auch wer das Gebäude mit 252 Büros und 15 Sitzungs- und Veranstaltungssälen noch nicht besucht hat, kennt sein Inneres möglicherweise doch: Für die Kult-Serie „Babylon Berlin“ ist das Rote Rathaus nämlich Drehort bei jenen Szenen, die im Polizeipräsidium spielen sollen. Dessen Originalgebäude am Alexanderplatz wird im Weltkrieg zerstört, heute befindet sich dort das Shopping-Center Alexa. Das 1890 erbaute Polizeipräsidium war im Stil dem Roten Rathaus ähnlich – und hieß entsprechend: „Rote Burg“.
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