Neulich traf ich Alya mal außerhalb unserer lustigen Tischrunde. Wir liefen bei strömendem Regen mit fetten Parkas durch die trübe Landschaft und erfreuten uns gerade masochistisch an der Tristesse des Herbstes, als Alya stehenblieb und sprach: „Sag mal, findest du auch, dass alles immer schwieriger wird? Alle denken nur noch an sich selbst?“ Alya war gerade mit schneeweißen Öko-Sneakern in eine Pfütze getreten und hatte sich dabei leicht den Knöchel verdreht. Sie humpelte. Der Vorfall hatte nicht gerade zur Verbesserung ihrer Laune geführt.
Natürlich fragte ich sofort, was sie meine, dächten wir beide in diesem Moment doch nicht an uns und bewiesen so doch das Gegenteil. Da sagte sie, ihr komme die Gesellschaft immer mehr als Zwangsgemeinschaft hirntoter Marktsubjekte vor, die auch bei der kleinsten Krise aufeinander losgingen und deren Sinn darin bestehe, Produkte zu bestellen, zu konsumieren und wegzuwerfen ergo: Müll zu produzieren. Puh. Alya: „Alle denken nur daran, wie sie unbeschadet durchs Leben kommen. So entsteht doch keine Gemeinschaft, auf der sich so etwas wie eine demokratische Gesellschaft aufbauen lässt. Wir müssen doch gegenseitig an uns denken und nicht nach der Devise handeln: Wen jeder an sich denkt, ist an alle gedacht!“
Alya sprach auch davon, dass es nicht gut sei, wenn die zehn reichsten Prozent der Bevölkerung 70 Prozent des Vermögens besäßen und die 50 ärmsten Prozent nur zwei bis drei. Kein Wunder, „dass so etwas wie Revolution in der Luft liegt, Revolution mit den Lettern A, f, D, B, S und W.“ Wer wollte da widersprechen.
Tatsächlich hatte ich gerade ein Interview mit Aleida Assmann gelesen, in dem sie von Aristoteles’ und dem Sensus communis spricht, dem Gemeinsinn, der uns in unseren neoliberalen Individualgesellschaften vielleicht abhandenkommt. Um ehrlich zu sein: Ich dachte, während der Regen auf uns fiel und die Parkas schwerer wurden, dass Alya Aleida Assmann auch gelesen hatte.
Als wir weitergingen, meinte sie, alles drifte auseinander, die Gesellschaft werde zu einem Patchwork unzähliger Flicken, die alle nichts mehr miteinander zu tun haben. „Schrecklich“, sagte sie, „will ich in so einem Land eigentlich leben?“ Ich fragte darauf nur: „Hast du denn eine Wahl?“ Sie blickte mich ratlos an.
Tatsächlich ist Egoismus schon das große Problem unserer geliebten kapitalistischen Individualgesellschaft. Olaf Scholz ist das beste Beispiel. Mit seiner Kandidatur stellt er das Kanzler-Ego vor den Willen des Volkes. Dabei sollte es uns doch – Liberté, Egalité, Fraternité – um Brüderlichkeit gehen (die heute auch Schwesterlichkeit ist, logisch). „Ich glaube“, so Alya, „wir müssen die Welt und uns neu erfinden, Gott hat uns mit einem Sinn zu wenig geschaffen.“ Seit wann sie an Gott glaube, frage ich. „Was weißt’n schon du? Ich glaube schon an Dinge, die meine fünf Sinne nicht erfassen können.“
„Ich glaub’, ich muss heim, meine Tochter hat Hunger!“ Na, wenn das nicht der Beweis ist, dass Alya mindestens sechs und wir doch genügend Sinne haben. Wir müssen sie nur zulassen.
Schreiben Sie mir: mahlzeit@mannheimer-morgen.de
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/kultur_artikel,-kultur-zwischen-regen-und-revolution-_arid,2265820.html