Mannheimer Sommer - Mit Mozarts Singspiel zeigen Luk Perceval und Asli Erdogan auch einen postdramatischen Abend über die Marotten der Cancel Culture

Wie am Nationaltheater Mozarts "Entführung" entführt wird

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Noch ein einsamer Mensch in dieser einsamen „Entführung“: Amelia Scicolone (Blondchen) inmitten der mit weißen Fahnen demonstrierenden Statisterie. © Christian Kleiner

Der Mannheimer Sommer tut so, als hätte er „Die Entführung aus dem Serail“ gezeigt. Dabei ist es eher so, dass ein paar Leute, die mit Mozarts Werk nicht mehr ganz zufrieden sind (oder nichts mit ihm anfangen können), die „Entführung“ entführten in eine neue, aktuelle Sphäre, indem die Figuren einer Art Cancel Culture unterzogen worden sind – also einem Abgleich, ob sie unter Gesichtspunkten politischer Korrektheit noch tragbar sind. Ganze Personen wurden so aus der Story rausgekegelt, kein Minderer als der mächtige Bassa Selim, ein vom Christentum zum Islam konvertierter spanischer Renegat, der auch Kunde auf dem Sklavenmarkt ist. Mit ihm ist auch die Geschichte gecancelt. Keine Sklavin Konstanze. Kein Serail. Keine verdammten Harems-Mäuse. Kein Orientalismus. Keine aufopfernde Liebe. Kein Religionskonflikt. Kein blutrünstiges Säbelrasseln. Kein Nationalsingspiel. Kein Erfolgsstück. Kein roter Faden durchs Werk, das zu Mozarts Meisterwerken gehört(e).

So geht es weiter

  • Am Dienstag, 21. Juni, geht das Festival dann weiter …
  • um 17-22 Uhr mit der performativen Klanginstallation „Bunker // 34“ am Goetheplatz,
  • um 19 Uhr mit dem Musiktheater „The damned and the saved“ im Schauspielhaus,
  • um 19.30 Uhr mit der Führung durch die Ausstellung „Die ökologische Musterwohnung“ im Foyer am Goetheplatz,
  • um 20 Uhr mit dem Gastspiel „Cosmic Drama“ im Opernhaus,
  • um 22 Uhr mit dem Konzert „Ground Control“ mit Art Pop und Folk von Tellavision & Derya Yildirim) im Theatercafé.
  • Info/Karten: 0621/1680 150.

Rassistisch und sexistisch

Willkommen im postdramatischen (Musik)-Theater, einer Kunstform, die Soziales, Aktuelles, Theoretisches und Selbstreflektierendes dokumentarisch verhandelt. Von Johann Gottlieb Stephanies und Mozarts Stück aus dem Jahr 1782 hat Regisseur Luk Perceval jedenfalls gerade noch die Organe übrig gelassen. Das Gerippe, die Sehnen und Muskeln fehlen. Doch die Organe, also Arien, freilich sind (auch, wie sie in Mannheim umgesetzt werden) nicht zu verachten. Akzeptieren wir all das, können wir uns – endlich – auf den Abend im Opernhaus des Nationaltheater Mannheim einlassen, der ernst ist, poetisch, rätselhaft und voller bildhafter und kluger Gedankenkurven, die aber allesamt nach unten zu zeigen scheinen. Es ist schwer!

Perceval findet die „Entführung“ nämlich naiv, rassistisch, simplistisch und sexistisch“, wie er im Programmheft meint. Frage: Lieber Herr Perceval, warum inszenieren Sie das Stück dann überhaupt? Und: Dekonstruiert man nicht eher verhasste Dinge und versieht sie mit (nicht gegendertem und auch sexistischem?) Text der Exil-Türkin Asli Erdogan, der noch nicht einmal für diesen Abend entstanden sind, sondern – wie Mozart – für sich stehen wollte? Es ist eines der Rätsel dieses Abends.

All das soll nicht bedeuten, dass diese „Entführung“ nicht Stimmung hätte, nicht rühre, auch berühre und eine ansprechende Ästhetik böte, bei der ein hölzernes Kirchenraumskelett die sich immer wieder drehende Einheitsbühne (Philip Bußmann) bilde. Im Gegenteil: Der Abend über einsame Menschen, die die Kälte in der vielbevölkerten Großstadt und in ihrem Inneren reflektieren, poetisch, verbittert oder selbstmitleidig, packt einen immer wieder mal. So etwas wie Ahnungsdrang, der durch die pausenlosen zwei Stunden zieht und die Zeit vergessen lässt – Fehlanzeige.

Perceval fährt dabei zwei Tempi: Zur Ouvertüre lässt er schön gewandete Statisten (Ilse Vandenbussche) luftig auf der schönen Drehbühne im Kreis joggen (Ted Stoffer). Sie scheinen glückselig irdischen Lebenszielen zu folgen. Als Kontrast setzt er Stillstand und Einkehr der Seele, die mit Erdogans Text sentimental reflektiert wird. Liebe. Leben. Reifen. Älterwerden. Gleichstellung. Das singende Personal – Konstanze, Blondchen, Belmonte und Osmin – ist gealtert mit Sprech-Alter-Egos gedoubelt (nur der arme Pedrillo bleibt als Sänger allein – warum eigentlich?).

Am Ende fühlt aber auch Mozart sich allein inmitten all der Gefühlspoetik über die irrsinnigen Einsamkeiten von Mann und Frau in der heterogenen, von Nationalitäten, Kulturen und Schichten bevölkerten Wohlstandsgesellschaft, zu der „bleiche Pakis“ und „aus den Anden vertriebene Indianer“ so sehr gehören wie Prostituierte und Dealer. Janis Liepins am Pult des Orchesters (NTO) hat die unliebsame Aufgabe, zusammenzukleben, was nicht zusammenhält. Die Arien begleitet er verlässlich, koordiniert die Geschehnisse auf der Bühne gut mit denen darunter. Sein Mozart ist freilich einer, der gediegen, brav und etwas phlegmatisch aus dem Graben dringt, obwohl das NTO gerade auch in den vielen Holzbläsersoli gut reagiert und Danis Juris’ Chor aus dem Graben sein „Singt dem großen Bassa Lieder“ (für den von der Regie gekillten Bassa) stimmstark, transparent und homogen tönt.

Solistisch funktioniert der Abend indes bestens. Estelle Krugers Konstanze wirkt – nach anfänglichen Höhenproblemen – zunehmend edel, schimmernd und fein tariert, Arien wie „Traurigkeit ward mir zum Lohse“ geraten ihr zu virtuos kolorierten psychologischen Röntgenbildern – zumal Tatja Seibt ihr als Gealterte noch mehr Eindringlichkeit verleiht. Amelia Scicolone (Blondchen) beginnt mit „Durch Zärtlichkeit …“ sensationell elastisch und führt ihren silbernen Sopran luftig und rund phrasiert in die Stratosphäre des zweigestrichenen E (so Lieb’ als Treu’ entweicht), wirkt in „Welche Wonne, welche Lust“ aber unruhig. Ihr Double Anna Magdalena Fitzi bleibt nebensächlich. Joshua Whiteners Belmonte strahlt vor allem ab dem Mezzoforte hell tenoral und ist kultiviert geführt. Er macht das wirklich gut. Im Pianobereich gehen ihm ein wenig die Obertöne verloren (stimmungsvoll spricht Joris Bultynck den alten Belmonte). Patrick Zielkes Osmin hat alles, was er braucht: kräftige Tiefe, Attacke, Brennen und eine Spur federnden Buffo. Toll – auch im Gespann mit dem rassistischen, zeternden und geilen Alter Ego im Rollstuhl (Patrice Luc Doumeyrou). Dass Uwe Eikötter, für den coronaerkrankten Raphael Wittmer kurzfristig einspringend, den Pedrillo echt anständig singt (und spielt!), ist ein weiteres (wundersames) Rätsel des Abends.

Man kann das so machen. Es zeigt Wirkung, klingt leise in unserem Inneren nach. Würde es heißen: Perceval/Erdogan: „Eine Entführung mit Mozart“, dann ginge der Abend in Ordnung. So aber bleibt uns nur ein Asli-Erdogan-Zitat: „Es ist ein Verbrechen, jemanden an eine Welt glauben zu lassen, die nicht existiert.“ Auch diese „Entführung“ existiert nicht.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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