Viktor Jerofejew lebt seit über einem Jahr im Exil in Berlin. Bisweilen hält er sich aber auch in Mannheim auf. Bei einem Treffen mit dem ungewöhnlichen Menschen, der mehrere Sprachen fließend beherrscht, sprechen wir darüber, was ihn mit Mannheim verbindet und wie es dazu kam, dass er mit der herrschenden Klasse Russlands auf so sarkastische Weise in seiner Literatur ins Gericht gehen kann.
Herr Jerofejew, was verbindet Sie mit Mannheim?
Viktor Jerofejew: Da sind zunächst einmal meine Freunde Colleen und Erhard Joerchel, die ich zufällig in Moskau kennengelernt habe. Ich war im Jahr 2000 zu einem großen amerikanischen Dinner eingeladen und ich hatte mich verspätet. Auch Erhard hatte sich verspätet, und so saßen wir nicht am Haupttisch, sondern etwas abseits. Wir saßen also zusammen und haben uns über Reisen unterhalten. Dabei sind wir uns gleich nähergekommen. Danach haben wir uns öfter in Moskau getroffen. Dann sind wir zu einem gemeinsamen Sommerurlaub nach Südfrankreich aufgebrochen. Später haben wir noch weitere Reisen gemacht, nach Spanien, China und Deutschland.
Und ab wann kamen Sie dann auch mal nach Mannheim?
Jerofejew: Zu dieser Zeit. Erhard ist auch der Pate meiner Tochter Maya. Ich lebe jetzt in Berlin. Die Stadt ist ziemlich hektisch. In Mannheim habe ich mehr Ruhe, um zu arbeiten. Ich arbeite gerade an der Theaterfassung meines neuen Romans „Der große Gopnik“ für das Stadttheater Freiburg, die dort im April nächsten Jahr aufgeführt wird.
Zur Person: Viktor Jerofejew
- Viktor Jerofejew gilt als einer der prominentesten Putin-Kritiker. Vor kurzem ist der 74-Jährige nach Deutschland gezogen. Er wurde 1947 in Moskau als Sohn eines sowjetischen Diplomaten geboren.
- Er verbrachte drei Jahre in Paris, lebte in weiteren westlichen Ländern und lernte Englisch und Französisch.
- Jerofejew studierte Literaturwissenschaften in Moskau und promovierte 1975.
Und wie gefällt Ihnen Mannheim?
Jerofejew: Gut. Obwohl im Krieg viel zerstört worden ist, gibt es doch noch eine ganze Menge wundervoller Häuser. Es erinnert mich auch ein wenig an Sankt Petersburg. Und außerdem ist es nicht weit bis Frankreich. Ich kann einfach das Auto nehmen und dort gepflegt zu Abend essen. Das Klima ist hier eher südlich im Vergleich zu Berlin. Dort ist es jetzt grau und kalt. Hier ist das Wetter wie in Frankreich.
Wenn man Ihre Biografie liest, so ist man doch erstaunt, wie nahe Sie oder Ihre Familie an den Zentren der Macht in der Sowjetunion und in Russland waren. Darin unterscheiden Sie sich wesentlich von anderen Oppositionellen.
Jerofejew: Ja, das ist richtig. Mein Vater, Wladimir Wladimirowitsch Jerofejew (1920-2011, d. Red.) war Dolmetscher von Josef Stalin und politischer Sekretär im Ministerium von Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, dem langjährigen Außenminister der UdSSR. Ich hatte, unter diesem Aspekt gesehen, eine glückliche Kindheit. Wir lebten in der Moskauer Gorki Straße und verbrachten die Sommerzeit auf einer Datscha in der Nähe von Molotows Sommerresidenz. Molotow war übrigens privat ein sehr freundlicher Mann.
Haben Sie eigene Erinnerungen?
Jerofejew: In Erinnerung geblieben ist mir ein Besuch Molotows in unserer Ferien-Datscha. Wir hatten zusammen den russischen Kanal von „Voice of America“ gehört. Dort brachte der Sender eine Nachricht über Studentenunruhen in Beirut. Die Studenten hatten Molotowcocktails auf die Polizei geworfen. Und ich fragte: „Onkel Slawa, was sind Molotowcocktails?“ „Ach“, antwortete er, „das ist Bullshit!“
So nah waren Sie ihm?
Jerofejew: Ja, ich war ziemlich nahe am inneren Zirkel dran. Das ist tatsächlich der Unterschied zwischen meiner Biografie und der der meisten Oppositionellen. Die meisten von ihnen und deren Familien waren politisch Unterdrückte. Ich kam von der anderen Seite. Aber wie ging es mit meiner Familie weiter? In den fünfziger Jahren begann der Stern Molotows zu sinken, aber der von meinem Vater erreichte luftige Höhen. Er wurde Botschafter in Frankreich. In dieser Zeit lernte ich viele hochrangige Personen der sowjetischen Nomenklatura kennen.
Was waren das für Menschen?
Jerofejew: Sie rauchten amerikanische Zigaretten, tranken Whiskey und schimpften gleichzeitig auf den Westen. Ich empfand das ganze Gebaren als eine einzige große Lüge. In der Zeit von Nikita Chruschtschow war mein Vater in der französischen Botschaft für die Kultur zuständig. Seine Aufgabe war es, Türen zur französischen Gesellschaft zu öffnen.
Sie waren also in der Zeit in Paris, als in der Sowjetunion um Stalins Erbe gekämpft wurde?
Jerofejew: Dieser Kampf vollzog sich 1953 schnell. Nach der Hinrichtung von Lawrenti Berija 1953 war der Weg für Chruschtschow und seine Leute frei. Unter Chruschtschow öffnete sich die Sowjetunion für die westliche Literatur und Kunst. In Paris lernte ich in dieser Zeit auch Picasso kennen und gab ihm meine ersten Texte.
Sie kannten Picasso persönlich?
Jerofejew: Ja, und er fand meine Texte gut. Im Sommer traf ich Picasso in Südfrankreich, in Antibes. Diese Zeit war für mich sehr prägend. Nur ein Teil meiner Seele ist dabei russisch geblieben, ein anderer ist französisch geworden. Ich halte es für sehr wichtig, als Schriftsteller verschiedene Seelen in sich zu haben, denn Menschen mit nur einer Seele können die Welt nur in Gut und Böse einteilen. Das, was sie selbst machen, ist gut, alles andere ist böse. In Turgenjews Roman „Väter und Söhne“ sagt eine der Hauptfiguren: „Der Mensch ist gut, die Umstände sind allerdings schlecht!“ Aber wer schafft denn die Umstände? Ist es nicht der gute Mensch selbst, der dafür verantwortlich ist?
Das erinnert auch an Ihr Werk.
Jerofejew: Ja, das ist auch grob gesagt der Inhalt meines neuen Romans: Es geht um die Unvollkommenheit des Menschen. Das ist der Grund für die unheimlichen Dummheiten auf dieser Welt. Schauen Sie, wie kam Putin an die Macht? Durch Jelzin. Jelzin hat in ihm einen dummen Jungen gesehen. Aber der Junge war doch nicht so dumm! Er war ein Gopnik, das ist einer wie ein Hooligan. Aus diesen Gründen wurde ich ein Oppositioneller.
Wie sind Sie trotz guter Beziehungen zu den Herrschenden in Russland dort in Ungnade gefallen?
Jerofejew: Mein Vater kletterte auf der Karriereleiter weiter nach oben. Nach Paris war die nächste Sprosse der Senegal und danach Gambia. Im Anschluss an diese Stationen wurde er zum Vize-Präsidenten der UNESCO ernannt und zog nach Wien. Dort war er danach auch noch Botschafter. 1979 endete seine Karriere abrupt.
Was war passiert?
Jerofejew: Daran war ich schuld, weil meine ersten Veröffentlichungen erschienen. Ich habe in den frühen siebziger Jahren an der Lomonossow-Universität in Moskau studiert. Am Institut für Weltliteratur habe ich eine Doktorarbeit über Dostojewski und den französischen Existenzialismus geschrieben. Danach gab ich zusammen mit anderen Schriftstellern Texte in dem Literaturalmanach Metropol heraus. Diese Sammlung von Texten von Dissidenten wirkte damals wie eine Bombe. Es gab in dieser Zeit auch eine immer mächtiger werdende oppositionelle Bewegung unter den Bildenden Künstlern. Der Konzeptkünstler Ilja Kabakow (1933-2023) war ein sehr enger Freund von mir. Ich wurde damals wegen dieser Aktivitäten aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Ich begann, meine ersten Romane zu schreiben, „Moskauer Schönheit“ und später „Das Leben mit einem Idioten“. Zu der Opernfassung dieser Erzählung hat übrigens Kabakov für die Inszenierung in Amsterdam das Bühnenbild geschaffen.
Konnten Sie das noch publizieren?
Jerofejew: Ja, aber er erst Ende der 1980er Jahre. Und sofort nach ihrem Erscheinen wurden sie sehr schnell in verschiedene Sprachen übersetzt. Vor allem in Deutschland stieß ich mit meinem literarischen Schaffen auf ein großes Interesse.
Die Zeit des Aufstiegs Ihres Vaters fiel doch in die Ära von Leonid Breschnew? War das, verglichen mit der Zeit vorher, nicht eine Zeit der Liberalisierung und der Annäherung der Sowjetunion an den Westen?
Jerofejew: Das wird sowohl von innen als auch von außen sehr kontrovers gesehen. Ich würde sagen, auf der einen Seite war Breschnew der Großvater der Perestroika. Aber auf der anderen hasste er alle politischen Dissidenten. Gorbatschow hingegen, mit dem ich persönlich befreundet war, hatte sich tatsächlich dazu entschlossen, die Sowjetunion von Grund auf zu reformieren. Eine der Erkenntnisse aus meinem neuen Roman „Der Große Gopnik“ ist, dass Russland keine Geschichte hat.
Wie meinen Sie denn das?
Jerofejew: Na ja, jeder Diktator vor Gorbatschow und auch danach hat sich diesbezüglich sein eigenes Märchen ausgedacht. Gorbatschow wollte wirklich aufhören damit. Deswegen hatte er auch ein Interesse, die Berliner Mauer abzureißen. In meinem Buch erzähle ich das, und ich erzähle auch, warum Europa Russland nicht versteht.
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