Mannheim. Familienidyll als Brennglas für das Grauen, das sich hinter einer Gartenmauer abspielt. Neben dem Vernichtungslager Auschwitz. Das mit einem Oscar ausgezeichnete Holocaust-Drama „The Zone oft Interest“ erschüttert auch deshalb, weil der private Bilderbuchalltag des KZ-Kommandanten Rudolf Höß, seiner Frau Hedwig und der fünf Kinder für die Fähigkeit steht, gnadenlos zu verdrängen und gleichzeitig grandios zu verfälschen.
Dass Höß ein Meister im Weglassen, Umdeuten und Dazudichten war, fanden Historiker des Mannheimer Stadtarchivs schon vor Jahren heraus. Inzwischen ist belegt: Der Nazi-Karrierist hat in seinen Erinnerungen Biografisches fabulierend geschönt - auch Kindheit und Jugend in der Quadratestadt.
Rudolf Höß log über seinen Geburtstag und seine militärische Karriere
Der langjährige (inzwischen pensionierte) Marchivum-Leiter Ulrich Nieß erzählt, schon seinem Institutsvorgänger sei Anfang der 1990er Jahre an Hand der Meldekarte aufgefallen, dass Rudolf Höß anders als in seinen aufgeschriebenen Erinnerungen nicht 1900, sondern am 25. November 1901 in Baden-Baden auf die Welt gekommen ist.
Aber warum diese Lüge? Vermutlich wollte Höß vertuschen, dass sein Geburtsjahr zu jenen „weißen Jahrgängen“ gehörte, die vom Militärdienst im Deutschen Heer des Kaiserreiches ausgeschlossen waren. Sein wahres Alter hätte wohl Zweifel an den kolportierten Ruhmestaten während des Ersten Weltkrieges genährt und sein „biographisches Lügengebäude“, so Nieß, gefährdet.
Höß behauptete als Freiwilliger an der Irak-Front sowie in Palästina und später als Mitglied des Freikorps Roßbach im Baltikum, beim Kapp-Putsch sowie in Oberschlesien nationale Interessen seines Heimatlandes vertreten zu haben. Seine Inszenierung als „Orientkämpfer“ reicherte er mit der frei erfundenen Herkunft aus einer alten Offiziersfamilie an. Außerdem fabulierte sich Höß eine großbürgerliche Kindheit zurecht. Vermutlich sollte auch diese in völkischen Verbünden seine Reputation stärken
Das Leben in Mannheim: Die Familie von Rudolf Höß lebte in einer Mietwohnung statt in einer Villa
Die Geschichte von „Hans“, dem kohlschwarzen Pony, kündet davon, dass der 1947 hingerichtete Kriegsverbrecher noch in der polnischen Todeszelle mittels Ausblenden und Ausschmücken an seiner Legenden-Vita festhielt. Laut Memoiren will er den vierbeinigen Spielgefährten mit den „blitzenden Augen“ in Mannheim zu seinem siebten Geburtstag geschenkt bekommen haben. In die aufstrebende Industriestadt war die Familie 1906 mit der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufstieg gezogen. Höß notierte, dass er „Hans“ manchmal in sein Zimmer schmuggelte.
Das Dienstpersonal habe dies nie den Eltern verraten. Die fünfköpfige Familie wohnte aber nicht, wie suggeriert, in einer Villa, sondern in der Lindenhöfer Bellenstraße, damals Arbeiterbezirk, zur Miete im dritten Stock . Pony wie Dienstpersonal hätten dort gar keinen Platz gehabt. Und auch die Schulzeit im humanistischen Karl-Friedrich-Gymnasium nahe Wasserturm verlief ab Herbst 1912 (und nicht wie niedergeschrieben ab 1910) weniger erfolgreich als geschildert - und ohne den angeblichen „mittleren Abschluss“. Rudolf zählte zu den Leistungsschwächsten, blieb Ende der Quinta sitzen und wechselte auf die Lindenhofschule, die er 1916 mit einem guten Volkschulabschluss verließ.
Danach begann er eine Lehre, möglicherweise beim Mannheimer Landmaschinenhersteller Lanz. Dass er keineswegs, wie später verbreitet, in die großherzogliche Armee eintrat, gilt als sicher. Die Familie rutschte in fast prekäre Verhältnisse ab, als erst der Vater, dann die Mutter starb und Rudolf mit 17 Jahren Vollwaise war. Aber selbst diese Lebenssituation glitterte Höß und gab beispielsweise an, die jüngeren Schwestern seien in Klosterschulen betreut worden - dabei kamen sie ins Waisenhaus.
Ein Mannheimer Historiker und eine Mitarbeiterin des Marchivum überprüften die Fakten
Viele Jahrzehnte sollte das Höß-Konstrukt aus Dichtung und Wahrheit nicht hinterfragt werden. Aber dann machten sich der Historiker Wilhelm Kreutz von der Universität Mannheim und Karen Strobel, Philologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Marchivum, auf Spurensuche. Das Projekt war höchst ungewöhnlich angestoßen worden - von dem Enkel jener in Mannheim aufgewachsenen Bibelforscherin (heute „Zeugen Jehovas“), die aufgrund ihres Glaubens in verschiedene Lager kam, bis sie in Auschwitz tagsüber hinter jener Mauer, die Leben und Tod, Horror und Idylle trennte, für die Familie Höß kochte.
„Der Kommandant und die Bibelforscherin: Rudolf Höß und Sophie Stippel. Zwei Wege nach Auschwitz“ - diesen Titel trägt das 2018 herausgegebene Buch. Höß dürfte die neun Jahre ältere Lagerinsassin nicht nur angefordert haben, weil sich die beiden vermutlich aus Mannheim kannten, beispielsweise in der Metzgerei von Sophies Eltern begegnet sind. Obendrein galten Bibelforscher generell bei Nazi-Größen als zuverlässige Haushaltskräfte, auch weil aufgrund ihres Glaubens keine Anschläge oder gar Gift im Essen befürchtet wurden.
Wie wenig Höß die Religiosität und das für eine „Zeugin Jehovas“ unumstößliche Gebot „Du sollst nicht töten“ einzuordnen wusste, offenbart, dass er der Köchin vor Kriegsende Giftampullen mit dem Befehl gab, die fünf Kinder vor den Russen zu „retten“, falls er abtauchen müsse. Auch wenn die gesamte Familie nicht geflohen wäre, so hätte die gottesfürchtige KZ-Insassin die todbringende Order nie ausgeführt - trotz Drohung andernfalls in die Gaskammer zu kommen.
Sophie Stippel überlebte und wurde in Weinheim 93 Jahre alt. Für das Festhalten an ihrer von den Nazis kriminalisierten Überzeugung musste sie einen hohen Preis zahlen. Ihr Ehemann hatte sich scheiden lassen, die Tochter warf der Mutter vor, sich für den Glauben statt für sie entschieden zu haben.
Das Marchivum Mannheim bereitet eine Nachdruck von "Der Kommandant und die Bibelforscherin" vor
Das Autorenteam stellte nicht nur akribisches Recherchieren vor große Herausforderungen. Karen Strobel kommentiert „dass es mitunter nicht einfach war, sich einerseits der Person, dem Menschen Rudolf Höß zu nähern, seine Motivation und seine Lebenswelt und Radikalisierung nachzuvollziehen und gleichzeitig inneren Abstand zu wahren.“
Angesichts des Filmes „The Zone of Interest“, in dem Regisseur Jonathan Glazer den Familienalltag von Rudolf Höß (Christian Friedel) und Ehefrau Hedwig (Sandra Hüller) ins Zentrum rückt, bereitet das Marchivum einen Nachdruck des vergriffenen Buches „Der Kommandant und die Bibelforscherin“ vor, der im März oder April erhältlich sein soll.
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