Ludwigshafen. Modern Times. Es ist schon erstaunlich, was die Staatsphilharmoniker da tun. Jahr für Jahr setzen sie zu Beginn der Saison dezidiert Werke des frühen 20. Jahrhunderts aufs Konzertprogramm, Zeugnisse einer Zeit, über die man zwar immer wieder gern spricht, deren Musik aber bis auf wenige Ausnahmen in den Konzertsälen selten vorkommt. Geschummelt wird dabei natürlich auch ein bisschen. Michael Daughertys „Metropolis“-Sinfonie etwa entstand zwischen 1988 und 1993, dem Jahr, in dem auch Nikolai Kapustin sein 5. Klavierkonzert schrieb. Beide Werke werden am 15. September erklingen. Aber Intendant Beat Fehlmann ist ein Fan von Bezügen. Er ist kein Dogmatiker, zudem sucht er für seine Kundschaft eben auch eine verdauliche Mixtur und programmiert so George Gershwins geschmeidigen Klassiker „An American in Paris“ genauso wie „Pierrot Lunaire“ des gefürchteten Zwölftonmusikschrecks Arnold Schönberg.
Thematisch werden die Weltmetropolen der 1920er abgearbeitet: London (16.9.) New York (15.9.), Wien (8.9). Prag (gestern am 3.9.). Und zu Beginn der klingenden Welttournee steht, fast schon Tradition, ein Stummfilm mit Livemusik. Unter dem Banner „Berlin“ wird zur Modern-Times-Eröffnung auf einer großen Leinwand hinter dem Orchester die längste aller Langversionen des Stummfilmmeisterwerks „Metropolis“ von Fritz Lang gezeigt, während die Staatsphilharmonie mit Dirigent Stefanos Tsialis die Originalmusik von Gottfried Huppertz live dazu spielt. Das ist harter Tobak: Eine kleine Einführungsrede von Intendant Fehlmann, 145 Minuten Film mit Musik plus Pause - das macht drei Stunden im Pfalzbau.
Am Kiosk des Bestehenden bedient
Doch das Wunder geschieht: Der Abend wird zu einem fesselnden Ereignis, bei dem in keiner Sekunde die Spannung fällt. Da ist zum einen natürlich die - leider immer noch aktuelle - Geschichte um eine reiche Elite, die auf niederträchtige Weise ein Volk der Arbeiter ausnützt und möglichst dumm hält; das lässt einen in einer Welt, in der die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch auseinandergeht, natürlich nicht kalt. Da ist eine Liebesstory, die - natürlich - im Spannungsfeld dieser beiden Welten spielt.
Und dann ist da die Musik von Gottfried Huppertz. Sie faucht, raucht und stampft, wenn Fritz Lang die vielen Maschinen in der arbeitenden Unterwelt zeigt, wenn Muskeln kontrahieren, der Schweiß fließt und die Hoffnung auf ein besseres Leben gefriert. Zitat auf Zitat folgt. Klug abgewandelt hat er sie. Doch das „Dies Irae“ ist da genauso unverhohlen und plakativ erkennbar wie die „Marseillaise“. Huppertz, der fünf Jahre nach dem Filmdebüt 1927 in die NSDAP eintrag, bedient sich in seiner plastischen, expressiven und am 19. Jahrhundert orientierten Partitur am Kiosk des Bestehenden. Berlioz, Wagner, Schreker, Korngold oder auch die fast brutale Maschinenartigkeit von Prokofjews Kriegssonaten (Nr. 6-8) amalgamiert hier zu höchster Emotion.
Der Film, der ja nur hin und wieder Worte und Dialoge als Einspieler zeigt, wird so zum multimedialen Zauber, in dem man das gesprochene Wort in keinem Moment vermisst. Alles ist verständlich. Das Drama der Zweiklassengesellschaft schmerzt. Und das liegt freilich auch daran, dass die Staatsphilharmoniker unter Tsialis unverblümt, direkt, dynamisch und rhythmisch auf den Punkt spielen. Das Publikum jubelt. Zurecht.
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Bergsträßer Anzeiger Plus-Artikel Kommentar Klassische Musik boomt - wie auch die Staatsphilharmonie zeigt