Was, wenn tatsächlich alles möglich wäre, wenn also zwischen totaler Ordnung und totalem Chaos alles verhandelbar und auch verhandelt würde, zwischen Fügung und Zufall, zwischen Schwarz und Weiß, zwischen unendlichem Minus und unendlichem Plus? Hört man der Berliner Jazzfrau Cymin Samawatie und ihrem Sextett zu, so reichen sich die Extreme hier ständig die Hände. Das luftigste und feinste Ziselieren auf den Saiten des Steinway-Flügels, der Wölbbrettzither Koto (Naoko Kikuchi) oder einer Violine (Maria Reich) stößt da auf brachiale Maschinengeräusche aus der digitalen Welt, auf Entladungen von Schlagzeug (Ketan Bhatti), Bassklarinette (Milian Vogel) und Klarinette (Mona Matbou-Riahi), die wie die Klangwerdung vulkanischer Eruptionsgewitter glühendes Magma auszuspucken scheinen. Chaotisch klingt es nur selten, wenn Samawaties Band spielt. Aber fast immer am Rande des Abgrunds unendlicher Freiheit. Fest komponierte Passagen sind Rarität an diesem Abend. Dann aber, wenn Gestaltloses Gestalt annimmt, allmählich, krallt sich das Ohr an Motiven, periodischen Rhythmen und Patterns fest und wartet darauf, dass Samawatie mit ihrer sehnsüchtig-romantischen Stimme eines der persischen Gedichte ins Mikrofon singt - auf Farsi, der Sprache ihrer aus Persien stammenden Eltern.
Mutige Eröffnung
Anything goes, könnte man bei diesem Sextett sagen, das im Niemandsland zwischen Avantgarde, Jazz und fernen Volksmusiken schmale Grate bewandert. Aber es stimmt nicht. Denn wie auch in einer freien demokratischen Gesellschaft alles ständig ausgehandelt werden muss, so tut es auch dieses Sextett, das wie eine präsidentielle Republik funktioniert. Alle sind gleich, nur eine ist gleicher: Samawatie, die im Zweifelsfall steuert, dirigiert und sagt, wo’s langgeht. Als eine Art Master of Desaster schafft sie immer wieder Struktur und Organisation. Und das ist gut so.
Eine mutige Eröffnung zu einem 25. Geburtstag, den Enjoy Jazz hier im Karlstorbahnhof feiert und die - logisch - auch den einen oder die andere aus dem Saal treibt; die gehen, haben sich wohl unter einem „Festival für Jazz und Anderes“ Anderes vorgestellt. Auch das ist akzeptabel.
Natürlich gibt es zuvor auch von Sängerin Anelisa Stuurman eingeführte Ansprachen. Michael Sieber spricht; er ist Schirmherr von Enjoy Jazz. Cora Malik spricht; sie ist Geschäftsführerin des Karlstorbahnhofs. Martina Pfister spricht; sie ist neue Kulturbürgermeisterin Heidelbergs. Claudia Roth spricht (per Videobotschaft); sie ist Kulturstaatsministerin. Zanele Muholi spricht; sie ist südafrikanische Künstlerin. Und natürlich spricht auch Rainer Kern, Mister Enjoy-Jazz, der quasi für alles steht, was dieses Festival ausmacht. Kern, der den Applaus bei seinem Auftritt mit dem bemerkenswerten Satz „Sie sind ja nett“ retourniert, betont ja immer wieder, wie vielfältig alles ist, wie in Bewegung und dass wir alle vertrauen sollten, dass es schon irgendwie wird. Deswegen heißt das erstmalig ausgerufene Festival-Motto auch „trust“ - vertraue. Schön.
Wer nun aber darauf vertraut, dass, wenn die Welt interkulturell und in ihrer Vielfalt sicht- und hörbar gemacht wird, auch alle Welt zusammenströmt, irrt. Als Samawatie zu ihrem dritten Stück ansetzt, das mit dem Material eines türkischen Kinderlieds arbeitet, fordert sie die im (fast) voll besetzten Saal sitzenden Türken oder Deutschtürken dazu auf mitzusingen. Das Problem: Es gibt keine. Auch der Blick in die Festgemeinde beim anschließenden Empfang - „Tout Metropolregion“ ist da - legt die Vermutung nahe: Fast alle sind weiße, deutsche Akademikerinnen und Akademiker oder solche, die es noch werden. Damit ist freilich weder über die Menschen noch das Festival geurteilt. Es zeigt ganz einfach nur, wie schwierig es ist, eine Gesellschaft voller Partikulargruppen am Lagerfeuer Kultur zu vereinen.
Demokratische Verhandlungen
Eher gelingt das vielleicht mit dem Gegenentwurf zu Samawaties Kunst, die mehr mit Neuer Musik als der Vorstellung eines globalen Idioms von Jazz zu tun hat. Denn nach Häppchen und Gin-Tonic geht’s in dieser Nacht voller Musik, Tanz und Film zur Percussionlegende Kahil El’Zabar, die schon für Leute wie Dizzy Gillespie und Nina Simone getrommelt hat. Überwiegt aber bei Samawatie das Anarchische, so läuft hier mit Trompeter Corey Wilkes, Keyboarder Justin Dillard und Saxofonist Alex Harding (fast) alles über Ostinatofiguren und -rhythmen. Langsam modifizieren sie sich, wie man das vom Jazz kennt. Hier ein Solo, dort ein anderes, dazwischen Gesang. Es sind am Ende der beiden Acts eher die beiden strenger organisierten letzten Stücke des Samawatie Sextetts (Türkisches Kinderlied, „Wassertiger“), die exemplarisch aufzeigen, wie ein Weg zwischen klug durchdachter Form und sorgsam ausgewähltem Material mit der Unendlichkeit des Möglichen durch den freien Fluss intensiver Improvisation demokratisch ausgehandelt werden können.
Das passt zu Rainer Kern. Für ihn sei Jazz, so sagte er im Interview mit der Redaktion, „der unausgesetzte Versuch, die gegebenen Umstände zu verändern und zu erweitern.“ Dieser Versuch führt natürlich zwingend in einen Zustand, in dem alles möglich sein darf und muss - totales Chaos und totale Ordnung inklusive.
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