Mannheim. Wer jemals geglaubt hat, Beethoven habe keinen oder wenig Humor besessen, der sollte sich noch mal den Anfang des Endes aus seiner Neunten anhören: Zweimal gestaltet er auf acht Takten mit maschinenpistolenartigen Attacken ein heilloses Chaos, das in seiner Dichte und Informationsflut kaum durchschaubar ist – und nach dem zweiten Mal lässt er den Bariton singen: „O Freunde, nicht diese Töne!“ Beethoven selbst hat die Worte geschrieben und Schillers berühmter Ode vorangestellt, er zieht damit eine neue Ebene in die Kunst ein, tritt heraus aus ihr, die er selbst geschaffen hat, und beurteilt sie, wird sein eigener Kritiker.
Wie das Nationaltheaterorchester (NTO) das im zweimal ausverkauften Mozartsaal des Rosengartens spielt, vor allem, mit welchem physischen Aufwand Generalmusikdirektor Roberto Rizzi Brignoli es dirigiert, ist an Furor kaum zu übertreffen. Der dissonante Chaosmoment kommt über uns wie ein kosmischer Strahlungsausbruch, und Sung Has Bariton, mächtig strömend wie immer, danach ebenso. Und wenn Ha vollbrustig und doch mit den nötigen Obertönen intoniert, es sollten angenehmere und freudenvollere Töne erklingen, folgt – endlich, werden manche sagen – die auch als Europahymne bekanntgewordene berühmte Melodie von der Oboe. Zuerst auf der Dominante von D-Dur in A-Dur, dann: „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“ – ein hymnischer Parforceritt zu einem Ort des Glücks und der Seligkeit, der den Gerechten und Heroen nach dem Tod vorbehalten ist. Leider.
Dies ist auch der Moment, in dem der Mensch endgültig auftritt. Die meiste Musik, die bis hierher erklang, war geprägt von hohlen Quinten, schwer zu greifenden Mottos und Motiven sowie technisch-motorischen Gefügen und, ähnlich wie später bei Bruckner, einer metaphysischen Ahnung einer kalten großen Macht, die mal katastrophisch daher kommt, dann universell, göttlich.
Diese Stimmungen haben das NTO und Rizzi Brignoli in jedem der vier Sätze gut getroffen. Der Gestus stimmt. Besonders das Adagio molto e cantabile atmet dann doch sehr human und seelenvoll warm und ist – in Vorahnung aufs Finale – die in sich ruhende Keimzelle für die freudenvolle Erzählung von Frieden, Freiheit und Liebe. Einmal streicht sich der GMD sogar selbst liebevoll über den Handrücken, um den Violinen deutlich zu machen: So zart sollt ihr diese Achtelbegleitung spielen.
Riesenchor und Solisten tragen zur Überwältigung maßgeblich bei
Rein musikantisch indes, und das überrascht bei Rizzi Brignoli eher, ist die gesamte Aufführung immer wieder von Schwächen gekennzeichnet. Gerade im Adagio etwa scheint es immer wieder, als seien die Hörner einen Nanometer tiefer als die Holzbläser. Im (sehr langen) Scherzo, das vielleicht eine Spur zu wuchtig daherkommt, fehlt insgesamt ein bisschen Quirligkeit, die vielen punktierten Viertel mit dem Achtelnachklapp sind zu undeutlich und federn nicht richtig, und im Viervierteltakt-B-Teil droht Rizzi Brignoli immer wieder ein wenig die Kontrolle zu entgleisen, das Metrum, der Rhythmus wirken instabil, die Holzbläser klappern mitunter sogar ein wenig. Dafür sind die folgenden Kantilenen, ausgehend von den Celli und Bratschen sich nach oben schraubend, butterweich und zart. Dass diese Musik sehr schwer richtig genial zu spielen ist, kann man auf vielen Aufnahmen (auf denen ja immer sogar noch getrickst wird) nachhören – von Spitzenorchestern wie den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan (1977) oder Simon Rattle (1992) bis hin zu den Wiener Philharmonikern unter Andris Nelsons (2019).
Der Weg zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war immer schwer
Das betrifft freilich auch den Riesenchor und die Solisten, die hier zur Überwältigungsmusik beitragen. Bei „Seid umschlungen Millionen“ mutet Beethoven etwa den Sopranistinnen immer wieder ein zweigestrichenes A zu, teils taktelang ausgehalten – da hört man dann schon Grenzen, die nur mit großer Anstrengung überwunden werden können, zumal ja auch Nicht-Profis im Extrachor mitsingen. Auch die anderen Stimmen wirken mitunter etwas ungeschliffen – alles auf sehr hohem Niveau natürlich. Leider ist das bei den exzellenten Solisten kaum anders, besonders Tenor Jonathan Stoughton singt Estelle Kruger (Sopran), Julia Faylenbogen (Alt) und Sung Ha (Bariton) mit siegfried’schem Heldenstahl in Grund und Boden, als gelte es, einen Dezibelcontest zu gewinnen. Unschön.
Dabei hat alles gut begonnen. Der erste Satz, der mit seiner leeren Quinte wie vor dem Urknall gasförmig klingt und dann majestätisch explodiert, gelingt bestens. Doch der Weg zum Menschen, zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, er war schon immer beschwerlich. Überwältigt und umschlungen sind die Menschen im vollen Mozartsaal erwartungsgemäß dennoch. Es herrscht Jubel – und Beethoven zwinkert uns zu.
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