Mannheim. Am Ende, wenn eigentlich schon alles vorbei zu sein scheint und das (fast) unvermeidliche „Con te partirò“ zuerst auf Italienisch und dann auf Englisch als „Time to Say Goodbye“ als Duett mit Sängerin Red durchdekliniert ist, wenn alle Emotionen gefühlt und sicher Tausende Tränen gekullert sind, dann kommt der Mann doch noch mal auf die Bühne. Langsam. Aber sicher. Andrea Bocelli will nicht enden. Das überwältigte Publikum überwältigt ihn, und nach einer ganzen Reihe von leichteren Stücken im zweiten Konzertteil - von Filmmusik über Zarzuela bis hin zu Pop - kehrt er zum Beginn dieses Abends in der SAP Arena zurück: zur Oper!
Einen Kracher der Tenorliteratur zieht er kurzerhand noch aus dem Ärmel- Er singt „Nessun dorma“ aus Giacomo Puccinis „Turandot“ - als sei es die Ultima Ratio dieses Abends, die Leute nach Hause zu schicken mit dem Rat: „Nessun dorma!“. Keiner schlafe! Seid glücklich, fröhlich und macht euch auch nach dem Konzert noch einen schönen gemeinsamen Abend. Es ist fast unfassbar, wie der 65-jährige Bocelli auch nach gut zwei Stunden Konzert und einigen hohen C’s (etwa im Verdi-Hit „Di quella pira“) sich noch locker in tenoralen Stratosphären bewegt und ganz entspannt kräftig mit dem wiederholten „Vincerò“ zum h und a hinaufsteigt.
Er bricht sein Schweigegelübte und sagt Dankeschön
Willkommen am Lagerfeuer der Massenkultur. 9000 Menschen erleben diesen Abend mit der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach, dem Bachchor Stuttgart, Sopranistin Cristina Pasaroiu, Violinistin Rusanda Panfili, Sängerin Red sowie den Tanzenden Francesco Costa und Angelica Gismondo unter der Leitung von Dirigent Marcello Rota. Sie sind am Ende lautstark begeistert und feiern ihren Star wie einen Gott.
Bocelli muss dazu nicht viel tun. Er umgibt sich mit schönen und begabten Menschen (überwiegend Frauen), lässt sich führen und singt, ohne auch nur eine Geste und schon gar keine Ansprache zu machen. Und die Menschen ziemlich unterschiedlicher Couleur und Nationalität sind begeistert. Obwohl: Ein einziges Mal bricht er mit dem offenbar vor der Show geleisteten Schweigegelübde und sagt: „Dankeschön“. Mehr nicht. Für den Applaus. Dafür, dass wir, das Publikum, diesen Weg zwischen ernsthafter Klassik, Entertainment und Lebensromantik mitgehen.
Manchmal muss man die Geschmacksfragen beiseite lassen
Ohnehin ist das sein Ding. Bocelli ist ein Gratwanderer zwischen vielen Welten. Er holt die Menschen aus ihren Ecken zusammen an einen Platz, den Platz namens Herz. Er vereint. Erinnert ans Schöne. Weckt starke Emotionen. Euphorisiert. Das Besondere: Alles, was er anfasst, gelingt ihm - Geschmacksfragen mal beiseite - irgendwie in exzellenter Qualität und Überzeugungskraft. Nur so ist auch zu erklären, dass der blinde Italiener der Tenor mit den meisten verkauften Tonträgern ist. 85 Millionen Stücke sollen es sein. Wahnsinn!
Und am Ende kommt bei Bocelli auch immer Bocelli heraus - ob er nun Verdis „La donna è mobile“ singt, Laras Schmachtfetzen „Granada“ und Velázquez’ „Besame mucho“ oder - im Duett mit Pasaroiu - das eigentlich seit Ewigkeiten durchgenudelte Trinklied „Brindisi“ aus Verdis „La Traviata“- Bocelli ist Bocelli. Wohlklingend. Romantisch. Schön. Überwältigend, wenn man sich vom leichten und latenten Anflug von Kitsch nicht die Laune verderben lässt und sich auch durch die musikalischen Arrangements, die Verwendung modernster Technik (einiges kommt wohl auch aus dem Computer) und der Konzentration auf die „schönsten musikalischen Meisterwerke“ nicht irritieren lässt.
Der Sound ist so gut wie die Technik
Für Puritaner jeglicher Couleur ist das nichts. Es. Ist. Entertainment. Punkt. Und dieses Entertainment ist verdammt professionell. Man schwelgt einen Abend lang in wunderbarer klanglicher Harmonie, blickt auf die Bilderflut wunderbarer Ansichten von Italiens Land- und Ortschaften im Bühnenhintergrund und taucht - ganz im Sinne von Friedrich Nietzsche - ab in eine Kunstwelt, um der schnöden Realität zu entfliehen. Das ist richtig gut gemacht.
Auch der Sound des Abends ist es. Beim Orchester hört man trotz der hohen Dezibelzahl in der riesigen Halle, in der sonst ja gern auch Eishockey gespielt wird, viele Feinheiten. Die Holzbläser klingen schön und warm, das Blech strahlt, und die Streicher klingen satt und natürlich. Rota am Pult macht das so gut wie die Soundtechnik im Saal.
Bocelli hat immer noch eine perfekte Intonation
Und Bocelli und seine Mitstreiterinnen ohnehin. Bei ihm ist ziemlich klar, dass er noch alles hat: Atem, Phrasierung, Höhe, Gedächtnis und vor allem auch eine perfekte Intonation. Im Grunde gibt es keinen Moment, in dem irgendetwas nicht ganz stimmt - vielleicht bricht ihm am besonders lang inszenierten Ende von „Besame Mucho“ ein bisschen die Stimme weg. Schwamm drüber. Wer weiß, wie schwer es ist, live mit einer riesigen Anlage gut und sauber zu singen, kann hier nur niederknien.
Man muss aber auch die anderen loben. Popsängerin Red zeigte in ihrem Intermezzo, wie sie die Emotionen des R ’n’ B ebenso abrufen kann wie virtuose Höhenflüge, Geigerin Panfili beherrscht nicht nur ihre Violine, sondern auch die Show.
So singt Andrea Bocelli "Nessun Dorma!"
Vielleicht ist, neben „Nessun Dorma“, gegen Ende das „Vivo per lei“ von Bocelli, Red und den beiden Tänzern der absolute Höhepunkt des Abends. Der Applaus ist berauschend, und am Ende ist egal, ob man diese Musik liebt oder nicht. Am Ende ist wichtig, dass wir alle hoffentlich einen Nanometer näher zusammengerückt sind, weil uns Andrea Bocelli zu gefühlvolleren, ja, vielleicht empathischeren Menschen gemacht hat.
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