Heidelberg. „Variables“ hat der britische Jazzmusiker Alfa Mist sein jüngstes Album genannt, übersetzt: „Variablen“. Diese wandelbaren Einheiten sind nicht nur in der Mathematik relevant. Im Jazz - der improvisierten Musik par excellence -spielen sie eine entschieden weitreichendere Rolle als in anderen Stilrichtungen.
Was und vor allem auch wer etwas spielt, kann die Prozesse und Ergebnisse einer scheinbar berechenbaren Ausgangslage völlig verändern. So weit, so bekannt.
Alfa Mist trat vor zwei Jahren in der Alten Feuerwache in Mannheim auf
Aber wer hört, wie Alfa Mists Klangkunst beim Enjoy-Jazz-Konzert im Heidelberger Karlstorbahnhof durch die Kollaboration mit seinem Live-Trompeter und -Flügelhorn-Spieler Johnny Woodham unerwartete neue Konturen gewinnt, der darf unter ebendiese Binsenweisheit einen schwungvollen Haken setzen: Mit tänzerischer Raffinesse bewegt sich der Blechbläser beim Eröffnungsstück „Foreward“ gleichsam zwischen Chaostheorie und Harmonielehre, zwischen aufgekratztem Freiklang und wunderbar geschmeidiger Launenhaftigkeit. Mist und sein Klavierspiel - und so kennt man den Briten auch - treten hier uneitel in den Hintergrund. Zumindest, wenn man nur die Oberfläche betrachtet.
Tatsächlich aber formt Mist zusammen mit Bass und Schlagzeug in überaus pointierter, feinnerviger Weise den komplex gesponnenen Groove-Unterbau, über dem sich das Stück so windungs- wie wirkungsreich entfalten kann. Vor zwei Jahren hatte ein Enjoy-Jazz-Auftritt von Alfa Mist in der Alten Feuerwache Mannheim für eine Warteschlange vorm Eingang und ein entsprechend volles Haus gesorgt. In Heidelberg geht es entspannter zu, aber zu gut zwei Dritteln ist der Saal auch hier gefüllt.
Alfa Mist hat sich die Musik autodidaktisch beigebracht
Man sagt dem vielseitig begabten Komponisten, Produzenten, Plattenlabel-Betreiber, Vokalisten und Pianisten Alfa Mist, der sich sein Tastenspiel autodidaktisch beigebracht hat und ebenso im 70er-Funkjazz wie im Hip-Hop verwurzelt ist, bisweilen einen gewissen Hang zur leichten, eingängigen Unterhaltung nach. Er selbst wird im Enjoy-Jazz-Programm mit dem Bonmot zitiert: „Mein Stil ist nicht jazzy genug für die Jazzer, aber nicht easy genug für die Easy Listeners“.
Das rund 90-minütige Konzert hinterlässt indes einen buchstäblich ziemlich tiefen Eindruck. In „First Light“ etwa, Mists Arrangement eines Stücks des stilprägenden US-amerikanischen Trompeters Freddie Hubbard, zeigt sich exemplarisch, wie gekonnt er den musikalischen Raum verwaltet, um dort Begegnungen zwischen Leichtigkeit und Extravaganz zu ermöglichen.
Der Londoner versteht sich in der Tat auf das lyrische Akkordspiel, auf geradezu malerisch sanft geschwungene Melodiebögen oder schimmernde Rhodes-Sound-Luminiszenz, wenn er vom Flügel ans Keyboard wechselt. Aber er agiert zugleich durchaus expressiv und behält den Groove-Grip, den Funk-Faktor seiner Musik im Auge. Glänzend gerät so auch „The Gist“, wie „Foreward“ ein Titel des „Variables“-Albums.
Er rankt sich wie ein lebender, atmender, wachsender Organismus um Jamie Leemings verhallte Nebelfetzen-Gitarre, verästelt sich rhythmisch und bildet ein weitläufiges Nervengeflecht aus, durch das Mist elektrisierende Klavier-Impulse zucken lässt.
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