Mannheim. Mein Gott, ist das schön. Irgendwann an diesem Abend, wir haben schon viel mitgemacht bis zu dem Zeitpunkt, da wird dieses hohe Fis ans dunkle Firmament gepinnt. Zart. Seelenvoll. Und doch auch kalt in seiner Unbeweglichkeit. Wie ein strahlender Stern leuchtet es dort oben in den ersten Violinen, und die eine Minute, die es lodert und strömt, lassen Harfe und Celesta noch ein Paar silbrige Funken am nächtlichen Himmel glitzern. Mit Flageolettes betupfen sie ein vages fis-Moll, das unwirklich ist, nicht mehr als das Fragment einer Mischung aus Melodie und Erstarrung. Dann, wie aus dem Nichts, implodiert der Stern, glüht mit der Dur-Terz (Ais) brennend auf – und erlischt. Ach!
Diese Kunst gehört nicht dem Komponisten. Diese Kunst gehört nicht, wie Lenin meinte, dem Volk. Diese Kunst gehört – zumal in solch lichten Sphären – dem Himmel, Gott oder den Göttern, dem Universum oder der Geschichte, der Zeit oder niemandem oder allen zusammen. Sie ist unendlich, unendlich schön.
Nationaltheaterorchester Mannheim brilliert im Rosengarten
Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir alles erlebt, alles, was der Schriftsteller Julian Barnes in seinem Schostakowitsch-Roman als den „Lärm der Zeit“ beschrieben hat, alles, was man auch als die Sprachlosigkeit der Zeit beschreiben könnte. Das Nationaltheaterorchester unter seinem Generalmusikdirektor Roberto Rizzi Brignoli – man kann es nicht anders sagen – brilliert im Rosengarten mit dieser Musik. Plastischer, unwirklicher, zirkusmäßiger, ambivalenter und dann wieder zärtlicher ist diese Sinfonie Nr. 5 (op. 47) kaum denkbar. Rizzi Brignolis Art, sich quasi um jedes Detail, jede Bebung und jeden Abgrund in der Partitur zu kümmern, wird direkt hörbar – und doch kommt ihm nicht das Ganze abhanden. Das ist nicht weniger als großartig.
Kammerakademie
- Termine: 1.12, 18 Uhr, Opal
- Programm: Vogler (Pariser Sinfonie), Grétry (Arie „L’usignuolo che al nido“ aus „Zemira e Azor“), Haydn (Kontrabasskonzert D-Dur), Fils (Sinfonie g-Moll), Mozart (Arie „Alcandro, lo confesso – Non so donde viene“ KV 294, Pariser Sinfonie).
- Besetzung: Amelia Scicolone (Sopr.), Johannes Dölger (KB), Jörg Halubeck (Dir.).
- Karten: 0621/1 68 01 50.
Auf der Krim komponierte Musik des Stalinismus im Putinismus
Hinzu kommen natürlich die Leistungen der Musizierenden bei diesem Ritt auf der Rasierklinge. Der gesamte Streicherapparat mit Konzertmeisterin Olga Pogorelova an der Spitze befindet sich in Höchstform, wie man etwa am Largo abhören kann, die Solisten der Blech- und Holzbläserfraktion beeindrucken in ihren Soli. Da entsteht im ersten Satz (Moderato) eine Flöte-Horn-Idylle wie aus dem paradiesischen Nichts. Da spielen zwei Flöten mit der Harfe ein delikates Trio oder gellt das Xylofon im Fortissimo ein penetrantes Klopfmotiv (Largo). Da treten überall lyrische Komponenten von Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete oder Posaune in den Vordergrund, selbst die Tuba ist präsent bei dieser Aufführung, die uns den gesamten soziopolitischen Zwiespalt vor Augen führt, in dem sich der Komponist Mitte der 1930er Jahre im stahlharten Stalinismus befand – ein Zwiespalt, der dazu führt, dass man keiner Stimmung, und sei sie noch so schön oder fröhlich oder triumphal, wirklich traut. Kann man diese, 1937 weitgehend auf der Krim komponierte Musik hören, ohne an den brutalen Putinismus, an Pussy Riot und Nawalny zu denken? Kaum.
Das ist freilich bei ihr anders: Sarah Christian. Alles, was die Solistin an ihrer Geige tut, ist echt, empfunden und auch so gemeint. Dem immer wieder aufkeimenden Pathos in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur etwa darf man sich getrost hingeben, zumal Rizzi Brignoli und Christian sich musikalisch meist sehr gut verstehen – lediglich ein paar Mal driften sie rhythmisch leicht auseinander. Verschmerzbar.
Sarah Christians Klang ist betörend, ihr „Flöten“ himmlisch
Die Grundierung des berühmten Konzerts wird hier sehr lyrisch angelegt. Offenbar passt das zu Christians Klang, der nie blendet oder vordergründig brilliert. Selbst in der virtuosen Kadenz des Allegro moderato, in der die Geigerin uns Akkorde, Arpeggien, Skalen, Themen, Motive, Triller oder auch die chromatisch herabstürzenden Sexten-Doppelgriffe mit stupender technischer Treffsicherheit teuflisch um die Ohren haut, bewahrt sie eine warme Klanglichkeit, ein Sprechen, ein Singen. Christians Klang ist betörend, ihr „Flöten“ himmlisch, jede Phrase zieht sie mit Emphase zu Beseeltheit, die Dialoge mit Klarinette, Horn, Flöte und anderen in der Canzonetta spielt sie mit halbem Ton in fahlem Licht. Tschaikowskys fragiles Wesen scheint hier durch. Als Zugabe zupft sie mit Solocellist Gabriel Faur Sibelius’ Miniatur „Regentropfen“ – mal was anderes.
Zwei Titanen der russischen Musik erklingen hier und begeistern das jubelnde Publikum. In der Grausamkeit der Schönheit wünscht man sich aber wie automatisch nur eines: Frieden. Mein Gott, ist das schrecklich!
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