Tradition

Das Bergsträßer Winzerfest in Bensheim im Wandel

Von einer regionalen Feier zum größten Volksfest Südhessens – die bewegte Geschichte des Bensheimer Winzerfests.

Von 
Frederik Koch
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So sah der Eingang zum Winzerfest im Jahr 1962 aus. © Hubert Schulz

Wenn Anfang September in Bensheim die Straßen mit bunten Lichterketten geschmückt sind und der Duft von Zwiebelkuchen und neuem Wein durch die Altstadt zieht, dann wissen Menschen an der Bergstraße: Es ist wieder Winzerfest. Neun Tage lang verwandelt sich die größte Stadt der Region in ein Festareal, das Besucher von nah und fern anzieht. Rund 100.000 Gäste kommen jedes Jahr – doch so selbstverständlich war das nicht immer. Ein Blick zurück zeigt, wie sehr sich das Fest verändert hat und warum es bis heute den Charakter der Stadt prägt.

Die Wurzeln reichen zurück ins Jahr 1929. Damals wurde das erste Bergsträßer Winzerfest gefeiert – als Weiterentwicklung der erfolgreichen „Bensheimer Woche“ von 1927. Motor dieser Idee war Joseph Stoll, Vorsitzender des Verkehrsvereins. Sein Konzept lautete „Hilfe zur Selbsthilfe“: Mit einer Kombination aus Gewerbeausstellung und Weinfest wollte er den kriselnden Handel und die lokale Wirtschaft ankurbeln und gleichzeitig über den Fremdenverkehr Bensheim bekannter machen.

Das Winzerfest von 1929 war noch klein und überschaubar

In Zeiten der Weltwirtschaftskrise war das ein gewagtes Unterfangen. Für das erste Fest wurden 6.800 Mark bereitgestellt. Nur durch den Überschuss der „Bensheimer Woche“ gab es einen kleinen Notgroschen, der jedoch gar nicht angetastet werden musste: Das Fest trug sich selbst und brachte sogar einen kleinen Gewinn von 20,80 Mark. Das Winzerfest von 1929 war noch klein und überschaubar. Auf dem Marktplatz entstand das erste „Winzerdorf“ – einfache Holzbauten, in denen die Winzer ihre Tropfen ausschenkten. Die Gläser waren schlicht, die Musik kam von Blaskapellen und beim Festzug präsentierten sich örtliche Vereine. Die Atmosphäre war geprägt von Heimatverbundenheit und dem Gefühl, gemeinsam durch schwierige Zeiten zu gehen.

Und so begrüßt das Winzerfest heute seine Besucher. © Frederik Koch

Doch schon kurz darauf kam Kritik auf. 1931 erklärten Stoll und seine Mitstreiter im Verkehrsverein ihren Rücktritt – aus Frust über die mangelnde Unterstützung durch Teile der Bevölkerung. Selbst Gastwirte, die nicht im Winzerdorf vertreten waren, erklärten öffentlich, kein Interesse am Winzerfest zu haben. „Wir wollen kein Winzerfest“, hieß es damals in Bensheim, und die Zukunft der jungen Veranstaltung stand auf der Kippe. Dass es dennoch weiterging, war wiederum Joseph Stoll zu verdanken, der durch seine Kontakte zu Trachtenvereinen und Bürgerwehren in Süddeutschland neue Impulse setzte. So kam es etwa 1934 zu einem prächtigen Trachtenumzug mit Gruppen aus dem Schwarzwald, dem Odenwald und Oberbayern, der sogar internationale Presseaufmerksamkeit erhielt – von New York bis Buenos Aires. Im Nachhinein kritisiert wurde Stolls Wirken in der NS-Zeit.

Bis 1938 wurde das Fest regelmäßig gefeiert. Dann stoppte der Krieg die Entwicklung. Erst 1948, fast zehn Jahre nach der letzten Ausgabe, erlebte das Winzerfest ein Comeback. Bürgermeister Joseph Treffert eröffnete das erste Nachkriegsfest mit den Worten „Es gibt aa Bensem nur“. Damals dauerte das Fest nur vier Tage, der Festplatz war noch gesäumt von Ruinen und doch war die Stimmung ausgelassen. Das Winzerfest war zurück, und seitdem ist es aus Bensheim nicht mehr wegzudenken.

Über 50 Stände mit Wein, Sekt und Spezialitäten

Heute, fast ein Jahrhundert später, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Das Winzerfest ist längst das größte Volksfest Südhessens, ein Aushängeschild der Region und ein Magnet für Gäste weit über die Bergstraße hinaus. Statt ein paar Holzbauten steht nun ein ganzes Winzerdorf auf dem Marktplatz: moderne Weinstände, liebevoll dekorierte Buchten, die von Winzerfamilien, Vereinen und Initiativen betrieben werden.

Über 50 Stände mit Wein, Sekt und regionalen wie internationalen Spezialitäten säumen die Altstadt. Wo früher fast ausschließlich einfacher Riesling ausgeschenkt wurde, reicht die Palette heute bis hin zu edlen Sekten und trendigen Rosés. Auch der Rummelplatz hat sich gewandelt. Heute lockt die „Funmeile“ am Beauner Platz mit Autoscootern, Breakdance, Riesenrad und Losbuden. Damit ist das Winzerfest längst nicht mehr nur ein Fest für Weinliebhaber, sondern auch ein Volksfest mit breitem Unterhaltungscharakter.

Trotz aller Veränderungen sind die traditionellen Elemente geblieben. Der Festumzug am ersten Sonntag ist noch immer einer der Höhepunkte. Vereine, Musikgruppen, historische Bürgerwehren und bunt geschmückte Wagen ziehen durch die Straßen – ein Bild, das Generationen verbindet. Auch die Krönung der Gebietsweinkönigin zur Eröffnung bleibt ein festlicher Moment, der den Wein als Herzstück des Festes betont.

So empfinden die Menschen selbst den Wandel

Doch mit der Größe sind auch neue Herausforderungen gewachsen. Wo früher ein paar Hundert Besucher durch die Gassen schlenderten, müssen heute Wege, Sicherheit und Logistik für Zehntausende organisiert werden. Zugangskontrollen, Ordnungsdienste und ein Verkehrskonzept gehören inzwischen genauso selbstverständlich zum Fest wie der Wein im Glas.

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Und wie empfinden die Menschen selbst diesen Wandel? Ältere Besucher schwärmen oft noch von der Gemütlichkeit früherer Zeiten, als man „noch fast jeden kannte“. Manche finden das Fest heute zu groß, zu laut, zu kommerziell. Für die jüngere Generation ist die Mischung aus Tradition und Moderne das, was den besonderen Reiz ausmacht: sich tagsüber im Winzerdorf mit Freunden treffen, am Abend über die Funmeile ziehen und den Tag bei einem Konzert oder DJ-Set ausklingen lassen. Frederik Koch

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