Frankfurt. Die Prognosen sind gigantisch, zumal nach dem faktischen Stillstand des Weltluftverkehrs durch die Corona-Pandemie, als Pilotinnen und Piloten untätig zuhause saßen, entlassen, freigestellt oder beurlaubt wurden. Und dem unerwartet steilen Wiederaufleben der Fliegerei. Es sei klar gewesen, dass sich der radikale Stellenabbau in vielen Bereichen der Luftfahrt bei der Erholung negative auswirken würde, sagte Stefan Herth, Präsident der Pilotenvereinigung Cockpit (VC) vor einem Jahr. Die Bundesagentur für Arbeit zählte 2021 im Jahresdurchschnitt mehr als 500 arbeitslose Pilotinnen und Piloten, so viele wie nie zuvor. Lufthansa zahlte in der Pandemie Schätzungen zufolge bis zu 240 000 Euro als zusätzliche Abfindung, wenn Piloten früher in den Ruhestand gingen.
Die Lage hat sich komplett gedreht. Weltweit ist von einem dramatischen Mangel an Pilotinnen und Piloten die Rede. Studien zufolge fehlen schätzungsweise 300 000 Männer und Frauen in den Cockpits von Passagier- und Frachtflugzeugen. In Europa sollen es rund 51 000 sein. Bei Airbus hieß es im Oktober 2021, dass weltweit in den anstehenden fünf Jahren 100 000 neue Pilotinnen und Piloten bei Linien-Airlines eingestellt würden - heruntergebrochen wären das fast 55 pro Tag. Grund: Die Erholung des Marktes komme viel schneller voran als angenommen. Vor allem Flugzeugkapitäne würden rar, weil immer mehr in den Ruhestand gingen.
Das verspricht hervorragende Chancen für angehende Piloten. Die Lufthansa-Tochter Eurowings wirbt aktuell um First Officer, also Co-Pilotinnen und Piloten. Sie würden unbefristet und in Vollzeit eingestellt. Dies biete langfristige Karriereperspektiven und einen sicheren Arbeitsplatz im Cockpit. Doch die Pilotenvereinigung VC warnt. Die Vergangenheit habe immer wieder gezeigt, dass eine schlechte Entwicklung der Weltwirtschaft zu spürbaren Einbrüchen beim Pilotenbedarf geführt habe. „Genaue Zahlen über die Nachfrage auf dem Markt für Verkehrspilotinnen und -Piloten haben wir nicht“, sagt VC-Vorstand Matthias Baier. „Aber es ist in Deutschland gegenwärtig nicht so wie in den USA, wo derzeit sogar Antrittsprämien gezahlt werden.“
Ausbildung läuft auf Hochtouren
Bis 65 dürfen Pilotinnen und Piloten in Europa ihren Beruf ausüben. Dass demnächst zu viele in den Ruhestand geben müssen, sieht Baier nicht. „Es gibt aber mittlerweile Bestrebungen, dass in einem Zwei-Personen-Cockpit beide über 60 Jahre alt sein dürfen und nicht mehr nur eine oder einer.“
Ein Blick allein auf die Lufthansa lässt den Bedarf erahnen. Für die Jahre bis 2030 hat die Airline rund 180 neue Jets bestellt, verbunden mit Optionen auf weitere 60. Dafür braucht es zusätzliches Personal im Cockpit. Die aktuell rund 5200 Pilotinnen und Piloten im Konzern dürften kaum reichen. Die Folge: Die in der Corona-Pandemie faktisch komplett eingestellte Ausbildung läuft wieder auf Hochtouren. Auch der Frauenanteil im Cockpit soll steigen. In Deutschland liegt er bei knapp sieben, weltweit im Schnitt bei nicht einmal sechs Prozent.
Interessenten rät VC ausdrücklich, vor der eigentlichen Bewerbung für die Pilotenausbildung einen Eignungstest zu absolvieren, der Aufschluss gibt etwa über das räumliche Vorstellungsvermögen oder die Mehrfachbelastbarkeit. Der Test schütze vor späterer Überlastung im Beruf, aussichtslosen Chancen bei späterem Einstellungstest oder auch hohen Schulden aufgrund einer abgebrochenen Ausbildung. Die dauert bei Lufthansa zwei Jahre und ist mit 110 000 Euro alles andere als preiswert. Auch wenn die Lufthansa über einen Partner Finanzierungshilfen anbietet, müssen 20 000 bis 30 000 Euro selbst aufgebracht werden. Gleichwohl steigen Jungpiloten in der Regel mit ansehnlichen Schulden in den Beruf ein.
Je nach Airline schwanken die Gehälter deutlich. Erste Offiziere, also Co-Pilotinnen und -piloten erhalten anfangs zwischen 1500 und 5000 Euro brutto. Nach drei bis zehn Jahren können sie zum Kapitän aufsteigen und kommen dann auf bis zu 10 000 Euro. Angesichts der Knappheit auf dem Markt zeigen die Gehälter wieder nach oben. Lufthansa und VC ringen derzeit um einen neuen Tarifvertrag für die Beschäftigten im Cockpit. Laut Lufthansa werden die Grundgehälter auf der Basis ihres Angebotes (plus 18,5 Prozent bis 2025) für erste Offiziere auf 5751 bis 10 842 Euro monatlich steigen, für Kapitäne auf 11 416 bis 16 253 Euro.
Jobs nicht vom Computer bedroht
Laut der aktuellen Piloten-Studie der Agentur Goose Recruitment liegt das Jahresgehalt eines Kapitäns in Europa im Schnitt bei 120 000 Dollar. „Das Einstiegsgehalt einer Co-Pilotin oder -Piloten liegt bei etwa 60 000 Euro, ein Kapitän beginnt mit 120 000 Euro“, sagt VC-Vorstand Baier. „In der Spitze können nach vielen Jahren im Cockpit auch 250 000 Euro erreichbar sein.“
Gefahr von anderer Seite droht den Jobs im Cockpit kaum. Dass Computer in absehbarer Zeit Menschen dort überflüssig machen, ist mehr als unwahrscheinlich. „Computer können grundsätzlich nur reproduzieren, was vorher einprogrammiert wurde“, sagt Dirk Sturny, Sprecher der Lufthansa-Aviation Training. „Beim Fliegen sind unzählige Einflussfaktoren unvorhersehbar, vor allem in Kombination. Bisher kann nur ein Mensch die Wechselwirkungen abschätzen und adäquat reagieren.“
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