Berlin. Steigende Beiträge, hohe Zuzahlungen, lange Wartezeiten auf Arzttermine. Die Sorgen der Patienten und Patientinnen bringen auch den Chef der Techniker Krankenkasse auf die Palme. Jens Baas leitet die TK seit rund 13 Jahren als Vorstandsvorsitzender. Der Chef der größten deutschen gesetzlichen Krankenkasse fordert eine Revolution des Gesundheitswesens. Was im System heute falsch läuft, erklärt er im Gespräch mit dieser Redaktion.
Herr Baas, die gesetzlichen Krankenkassen haben zu Jahresbeginn die Zusatzbeiträge massiv erhöht. Ist das deutsche Gesundheitssystem ein Fass ohne Boden?
Jens Baas: Ja, das Gesundheitssystem bleibt ohne Reformen ein Fass ohne Boden. Die Ausgaben liegen 65 Milliarden Euro über den Einnahmen, vor zehn Jahren waren es noch etwa 28 Milliarden Euro. Weil die Politik nicht gegensteuert und der Steuerzuschuss gleich bleibt, müssen diese Kosten über Zusatzbeiträge der Versicherten und Arbeitgeber gedeckt werden. Solange sich diese Schere weiter öffnet, wird der Beitragssatz immer weiter steigen.
Was sind die größten Preistreiber?
Baas: Ein großer Treiber sind die Medikamentenpreise. Allein 2024 stiegen die Ausgaben hier um zehn Prozent. Sie haben sogar die Ausgaben für ärztliche Versorgung überholt. Bei den Krankenhäusern stiegen die Kosten um acht Prozent. Und warum die Schere so auseinandergeht, sieht man, wenn man die Einnahmen dagegenstellt, die nur um rund fünf Prozent gestiegen sind.
Überzieht die Pharmaindustrie mit ihren Preisen?
Baas: Bei Originalpräparaten haben wir überzogen hohe Preise, es sind weltweit nach den USA mit die höchsten. Bei den Generika, also den Nachahmerpräparaten, sieht das anders aus: Da sind die Preise deutlich niedriger. Wir bekommen für Generika derzeit bis zu 95 Prozent Rabatt – und die Konzerne machen immer noch Gewinn. Hier könnte man sogar über höhere Preise sprechen, wenn die Hersteller dafür etwa ihre Lieferketten sicherer gestalten würden. Bei den Originalpräparaten sind die Dimensionen ganz andere. Hier gehen die Kosten für viele Medikamente in den sechs- bis siebenstelligen Bereich.
Müssten die Preise staatlich gedeckelt werden?
Baas: Es muss endlich eine vernünftige Preisfindung geben. Vernünftig heißt: Die Konzerne sollen fair bezahlt werden und ordentliche Gewinne machen, aber eben nicht beliebig hohe. Dafür brauchen wir mehr Transparenz über die tatsächlichen Kosten. Die Pharmafirmen haben derzeit die viel stärkere Verhandlungsposition und können uns als Gesellschaft ein Stück weit erpressen, indem sie drohen, Medikamente in Deutschland vom Markt zu nehmen oder Standorte ins Ausland zu verlagern. Hier muss sich die Politik einsetzen und für faire Verhandlungspositionen sorgen.
Was läuft bei Krankenhäusern schief?
Baas: Ein Aspekt ist, dass wir pro Kopf mehr Krankenhausbetten haben als andere europäische Länder. Die Kliniken stehen unter Druck, diese möglichst auszulasten, damit das Krankenhaus profitabel ist. Darum wird hier viel mehr in Kliniken gemacht, was anderswo ambulant erfolgt, zum Beispiel immer noch zu viele Leistenbruchoperationen. Die aktuelle Krankenhausreform soll die Kliniklandschaft und die Finanzierung neu regeln. Das muss jetzt vernünftig umgesetzt werden.
Die mögliche neue Bundesregierung will schon 2025 einige Leistungen der Krankenkassen durch Steuergelder finanzieren. Wie stark könnte dies die GKV entlasten?
Baas: Es geht hier um finanzielle Leistungen, die eigentlich nicht unsere Aufgabe sind, für die die Krankenkassen aber aufkommen. Ein Beispiel: Die Beiträge für die Versorgung von Menschen, die Bürgergeld empfangen, sind eine staatliche Aufgabe. Der Staat zahlt monatlich aber nur etwas über 100 Euro, obwohl die Versorgung über 300 Euro kostet. Für den Rest kommen die Beitragszahlenden auf, mit jährlich mehr als neun Milliarden Euro. Die Erstattung dieser Beiträge hatte allerdings auch die Vorgängerregierung versprochen – und nicht umgesetzt. Und wenn die 25 Milliarden für den Umbau der Kliniklandschaft über das Sondervermögen bezahlt werden, ist das nur fair. Denn auch das ist Aufgabe des Staates. Wenn beide Maßnahmen kommen würden, könnte das zumindest im nächsten Jahr einen Beitragssprung verhindern. Das eigentliche Problem ist dadurch aber nicht gelöst.
Muss die Entlastung nicht eher zu einer Senkung der Zusatzbeiträge führen?
Baas: Angesichts des Tempos, in dem die Ausgaben derzeit steigen, ist das unrealistisch. Damit die Krankenkassenbeiträge sinken, bräuchte es grundlegende Reformen, die dem entgegenwirken. Diese sehe ich in den bisher bekannt gewordenen Plänen leider nicht.
Schwebt ihnen hier eine Revolution vor?
Baas: Die ist im deutschen Gesundheitssystem sogar dringend nötig. Es ist viel zu unkoordiniert. Wenn das Gesundheitssystem ein Unternehmen wäre, müsste man den Vorstand rausschmeißen. Jeder, der nach einem Krankenhausaufenthalt zur Nachsorge in eine ambulante Praxis geht, weiß, dass die Informationen nur schlecht und oft sehr spät vom einen in den anderen Bereich fließen. Aktuell arbeitet jeder inselartig für sich. Mehr Koordination und Kooperation wäre für Patientinnen und Patienten besser und würde außerdem Geld sparen.
Sollte das System von gesetzlichen und privaten Krankenkassen aufgehoben werden?
Baas: Ja, diese Zweiteilung ist historisch gewachsen, aber völlig unsinnig und bringt viele Ungerechtigkeiten mit sich. Die Bürgerversicherung ist aber nicht die Lösung. Stattdessen sollten wir das System neu denken und die Vorteile aus beiden Welten kombinieren. Zum Beispiel mehr Freiheiten bei der Gestaltung von Tarifen, keine Gewinnorientierung und offenen Zugang für alle. Zu den Bedingungen können dann heutige gesetzliche und private Versicherungen miteinander in Wettbewerb treten.
Kassenpatienten warten im Schnitt länger auf Termine als Privatpatienten. Gibt es einen Trick, mit dem man als gesetzlich Versicherter schneller einen Termin bekommt?
Baas: Ein System, in dem man Tricks braucht, um an Termine zu kommen, braucht Reformen. Viele Menschen haben schon erlebt, dass Privatpatienten viel schneller einen Termin bekommen. Grundsätzlich sehe ich den Fehler hier aber nicht bei der Ärzteschaft. Eine Praxis ist schließlich auch ein Kleinunternehmen. Wir müssen das System so ändern, dass es für alle gerecht ist.
Andererseits klagen Ältere über 55 Jahre über hohe Beiträge in der privaten Krankenkasse. Haben Sie für diese Menschen einen Tipp, wie man doch noch in die gesetzliche wechseln kann?
Baas: Nein, ich selbst bin seit meiner Zeit als junger Arzt privat krankenversichert und kann noch nicht mal als Vorstand in meine eigene Versicherung wechseln. Die private Krankenversicherung ist wie eine Fischreuse. Du kannst rein schwimmen, kommst aber kaum wieder raus.
Wie können Versicherte dazu beitragen, das Gesundheitssystem zu entlasten?
Baas: Eine Schlüsselrolle für ein gesundes, langes Leben spielen Ernährung und Bewegung. Eine insgesamt gesündere Bevölkerung kann langfristig auch das Gesundheitssystem entlasten. Die Verantwortung, jetzt für ein besseres System zu sorgen, liegt aber ganz klar bei der Politik.
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