Berlin. Beinahe wäre Deutschland wieder einmal untergegangen. Fast eine Million Arbeitsplätze würde gefährdet, befürchtete Hans-Werner Sinn, der damalige Chef des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Dann aber passierte kaum etwas Negatives. Im Gegenteil: Vielen Leuten ging es besser, als der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde.
Das geschah 2015, am 1. Januar vor zehn Jahren. Nun, eine Dekade später, ist die Untergrenze der Bezahlung erneut umstritten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) plädiert seit geraumer Zeit dafür, den Mindestlohn deutlich auf 15 Euro pro Stunde anzuheben. Diese Position hat es auch in das Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl im Februar 2025 geschafft. Im Hintergrund steht wieder die Frage: Nützt die Regelung mehr oder schadet sie?
Seit Anfang dieses Jahres liegt der Mindestlohn bei 12,82 Euro
Das Mindestlohn-Gesetz ist einfach und wirksam. Seit Anfang des neuen Jahres schreibt es vor, dass grundsätzlich alle Beschäftigten hierzulande pro Stunde mindestens 12,82 Euro brutto erhalten müssen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Eine Kommission aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaftlern beschließt über regelmäßige Erhöhungen. Der Zoll kontrolliert, dass die Firmen den Lohn auch tatsächlich zahlen.
Als das 2015 eingeführt wurde, war es ein Quantensprung. Knapp vier Millionen Beschäftigte, die vorher teils deutlich weniger verdienten, hatten plötzlich das Recht auf 8,50 Euro pro Stunde – darauf verständigte sich die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor allem auf Druck der Sozialdemokraten. Es handelte sich um eine Abkehr von der vorherigen Politik der teilweisen Deregulierung des Arbeitsmarktes, die einen breiten Niedriglohnsektor hatte entstehen lassen. Viele Leute, die in Restaurants, Geschäften, Reinigungsfirmen, Schlachthöfen, auf dem Bau oder bei Sicherheitsdiensten arbeiteten, verdienten so wenig, dass sie davon kaum noch leben konnten. „Damals arbeiteten mehr als 20 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor“, sagt Thorsten Schulten von der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Heute seien es dagegen „vielleicht noch 15 Prozent“.
Der gesetzliche Mindestlohn reduzierte nicht nur die Zahl der arbeitenden Armen, sondern verringerte auch die Ungleichheit zwischen Leuten mit geringen und guten Einkommen. Und die Auswirkungen auf die Zahl der Stellen war weit geringer als befürchtet. Wirtschaftsverbände und Wissenschaftler wie ifo-Chef Sinn hatten argumentiert, die höheren Arbeitskosten würden Jobs vernichten, weil die Firmen sie sich nicht mehr leisten könnten. Sie bezifferten die möglichen Verluste auf bis zu 900 000 Stellen. Tatsächlich sank zunächst etwa die Zahl der Mini-Jobs um 150 000, andererseits nahmen im Gastgewerbe, dem Handel und anderen Branchen die besser bezahlten Verträge zu. Firmen kompensierten die Arbeitskosten beispielsweise dadurch, dass sie ihre Abläufe verbesserten, also ihre Produktivität steigerten, oder die Preise der Produkte und Dienstleistungen anhoben.
Andererseits fiel die Einführung des Mindestlohns in eine Zeit, in der die hiesige Wirtschaft insgesamt gut lief. Die Unternehmen brauchten mehr Leute, nicht weniger. Noch bis vor Kurzem stieg die Zahl der Beschäftigten Jahr für Jahr auf neue Rekorde. Mittlerweile macht sich außerdem der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel bemerkbar. Um knappes Personal zu halten und zu gewinnen, bieten die Firmen auch von sich aus höhere Gehälter. Dass der Mindestlohn wächst, entspricht diesem Trend.
Parallel dazu ändert sich jedoch die wirtschaftspolitische Situation. Statt moderaten Wachstums herrscht nun Stagnation. Passt da die Forderung der Sozialdemokraten in die Welt, die Lohnuntergrenze in einem großen Schritt auf 15 Euro anzuheben? Die Mindestlohn-Kommission selbst hat für den Jahresbeginn 2025 nur ein Plus von 12,41 Euro auf 12,82 Euro festgesetzt.
Wie tragfähig ist die Arbeit der Kommission noch?
Die Ursache für diesen Dissens bildet ein politischer Konflikt. Seit 2015 beschloss die Kommission die Entwicklung der Lohnuntergrenze im Konsens ihrer jeweils drei Gewerkschafts- und Arbeitgebermitglieder. In dieses Verfahren grätschte 2022 aber die SPD-geführte Bundesregierung hinein und setzte eine größere Anhebung auf zwölf Euro durch. Darauf reagierte die Kommission mit zwei kleinen Schritten für 2024 und 2025, indem sich die Vorsitzende auf die Seite der Arbeitgeber stellte und die Gewerkschaften überstimmte. Seitdem fragt man sich: Wie tragfähig ist der Kommissionsmechanismus noch? Zudem beruht der politische Konflikt auf unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Maßstäben und Einschätzungen.
Die 15-Euro-Ansage von Olaf Scholz jedenfalls ist eine Forderung im Wahlkampf, deren Umsetzung nicht besonders realistisch ist. Ein Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) würde wohl nicht in diese Richtung intervenieren. Andererseits scheinen sowohl die Unternehmerverbände als auch die Gewerkschaften ein Interesse daran zu haben, den regierungsunabhängigen Einigungsmechanismus am Leben zu erhalten. Der nächste Erhöhungsschritt könnte deutlich über 13 Euro pro Stunde liegen, aber auch beträchtlich unter 15 Euro.
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