Es geht durch lange Flure, ein Aufzug führt in die untere Etage. Wissenschaftler begrüßen sie mit einem Nicken, die Lichtverhältnisse wechseln. Von dunkel zu hell. Und links um die Ecke stehen sie vor dem mit „Bio II“ beschilderten Labor: Margot Bakker und Peter Reinhardt. Gekleidet in weiße Kittel und blaue Einweghandschuhe, verfolgen die Forscher im Pharma-Unternehmen AbbVie seit vielen Jahren, Tag für Tag, dasselbe Ziel: zu begreifen, was die Krankheiten Alzheimer und Parkinson auslöst.
Über das menschliche Hirn weiß die Forschung viel – und doch fast gar nichts. „Was wir wissen, ist, dass unlösliche Proteinablagerungen im Hirn Nervenzellen zerstören, Entzündungen auslösen und damit die Signalübertragung stören können. Bei Alzheimer sind es die beiden Eiweiße Beta Amyloid und Tau, bei Parkinson das Protein Alpha-Synuclein“, erklärt Bakker, die seit etwa 17 Jahren am Forschungs- und Produktionsstandort in Ludwigshafen arbeitet. Und einmal verloren gegangene Nervenzellen können nicht wieder ersetzt werden.
Patienten früh identifizieren
In Deutschland gelten derzeit 1,7 Millionen Menschen als demenzkrank, die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Betroffene haben Probleme, sich auszudrücken, sind verwirrt, leiden unter Stimmungsschwankungen, sie vergessen – bis sie nicht mehr wissen, wie sie heißen. Bis 2050, davon gehen Forscher aus, wird jeder Dritte im Seniorenalter an Demenz leiden. Mit Parkinson leben bundesweit etwa 250 000 bis 300 000 Menschen. Die Muskeln werden starr, aufrecht zu stehen oder zu sitzen, fällt dem Patienten schwer. Die Bewegungen werden immer langsamer, das unaufhörliche Zittern beginnt.
„Auf dem Markt gibt es eine Handvoll Medikamente, die Alzheimer und Parkinson nicht ursächlich aufhalten oder heilen, sondern die Symptome verringern können“, erklärt Bakker. „Sie lassen beispielsweise Demenz langsamer fortschreiten, so dass die Patienten ein längeres, qualitativ besseres Leben führen können.“ Auch AbbVie arbeitet an so einem Arzneimittel. Ein weiteres Problem ist, dass die Krankheiten sich im Verborgenen entwickeln: „Bis heute ist es nicht klar, wie genau die Proteinablagerungen die Symptome auslösen. Und sie treten auch erst auf, wenn die Erkrankung bereits fortgeschritten ist. Deshalb ist es umso wichtiger, die Patienten so früh wie möglich zu identifizieren“, so Bakker. Mit sogenannten Biomarkern zum Beispiel – messbare biologische Faktoren also, die wertvolle Informationen zur Frühdiagnostik und Vorsorge enthalten können. Forscher untersuchen Moleküle aus dem Hirn- oder Nervenwasser auf bestimmte Anzeichen. „Später gelingt es uns hoffentlich mit Blut“, so die Forscherin. Wenn sich die Konzentration des Tau-Proteins zum Beispiel innerhalb von fünf bis zehn Jahren signifikant verändert, kann das auf das Absterben von Nervenzellen hinweisen. „Wir müssen so viel wie möglich über die Erkrankungen lernen, um die Erfolgschancen der Medikamentenentwicklung zu erhöhen“, betont Bakker.
Lange Zeit haben wissenschaftliche Gruppen hauptsächlich unabhängig voneinander geforscht. „Mittlerweile haben wir uns mit kleinen und großen Unternehmen, mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen – so auch mit dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen – zusammengeschlossen, um so viel Wissen wie nur möglich zu bündeln.“ Es werden Daten ausgetauscht, Erkenntnisse werden verglichen. Dementsprechend viele Einblicke haben die Wissenschaftler vor allem in den vergangenen Jahren gewinnen können.
Komplex und zugleich faszinierend
Doch wie gehen die Wissenschaftler damit um? Krankheiten zu erforschen, die Millionen von Menschen weltweit betreffen, doch die keiner gänzlich versteht. Wo fängt man an, wo hört man auf? „Es ist komplex, das stimmt. Unser Gehirn ist ein faszinierendes Organ. Es ist in hohem Maße plastisch, also in der Lage sich zu verändern, deshalb auch erste krankhafte Veränderungen abzumildern und zu kompensieren“, erklärt Reinhardt, der seit mehr als vier Jahren bei AbbVie forscht. „Bei Alzheimer und Parkinson versuchen wir gewissermaßen die Ursache für einen Unfall herauszufinden, nachdem er passiert ist.“ Die Symptome von Parkinson wurden erstmals vor mehr als 200 Jahren beschrieben, von Alzheimer vor mehr als 100. „Seither hat sich in der Forschung viel getan, aber leider gibt es noch kein Medikament gegen das Vergessen, geschweige denn, diese Krankheit gänzlich zu heilen.“
Bis zu 20 Jahre im Gehirn
Dennoch habe man so Einiges erfahren: So schlummere Alzheimer vermutlich bis zu 20 Jahre im Gehirn, bevor sich die Krankheit bemerkbar macht. „Deshalb versuchen wir Patienten über mehrere Jahrzehnte zu untersuchen, so dass ganz früh schon Änderungen gemessen werden und man eingreifen kann“, so Bakker. Auch wisse man heute, dass Faktoren wie Umwelt und Genetik beim Ausbruch der neurodegenerativen Krankheiten eine maßgebliche Rolle spielen.
Die AbbVie-Forscher sind einen Schritt weitergegangen: Sie erzeugen die Erkrankungen in der Kulturschale. Einem Spender werden „mit einem kleinen Pieks“ zum Beispiel Bindegewebszellen aus der Haut entnommen. „Und diese Körperzellen können wir dann in sogenannte pluripotente Alleskönner-Stammzellen verwandeln, aus denen wir unter anderem Nervenzellen züchten“, erklärt Reinhardt. Diese Reprogrammierung dauere etwa ein bis drei Monate, danach sind die Stammzellen theoretisch unendlich vermehrbar.
„Die gesunde Nervenzelle können wir im nächsten Schritt krank machen. Mit einer Genschere verändern wir beispielsweise das Tau-Protein und können so immer weiter experimentieren.“ Kranke Zellen werden mit gesunden verglichen, die Proteine, die sich entlang der Nervenfortsätze ablagern, unter Mikroskopen beobachtet und mögliche Therapien in der Schale getestet. „Das ultimative Ziel ist es, herauszufinden, wie man Eiweißklumpen vorbeugen oder wieder entfernen kann, nachdem sie entstanden sind. Aber davon sind wir leider noch ein ganzes Stück entfernt.“
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