Interview

Was können wir von Japan und Südkorea lernen, Herr Hermann?

Deutsche Hersteller spielen bei der Transformation der Mobilität gut mit, sagt der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann. Was das autonome Fahren noch bremsen könnte.

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Christian Schall
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Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) informiert sich beim Automobilzulieferer Hyundai Mobis in Seoul über die neuesten Fahrassistenzsysteme. © Christian Schall

Seoul/Mannheim. Mit einer Delegation aus Politik, Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Journalisten ist der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) nach Tokio und Seoul gereist und hat sich dort über Mobilität und den Fortschritt beim vernetzten Fahren informiert.

Herr Hermann, Sie gelten als leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Hätten Sie sich hier in Seoul oder in Tokio auch getraut, sich aufs Fahrrad zu setzen und durch die Stadt zu fahren?

Winfried Hermann: Ja. Das habe ich ja auch in Stuttgart schon vor 30, 40 Jahren gemacht, als es noch nicht so schöne Radwege gab wie heute. Aber es ist offenkundig, dass Radverkehr sowohl in Seoul als auch in Tokio noch gute Entwicklungsmöglichkeiten hat. Da kann man noch einiges tun.

Sie sind seit 14 Jahren Verkehrsminister in Baden-Württemberg, welchen Eindruck haben Sie von der Mobilität in Japan und Südkorea bekommen?

Hermann: Insgesamt ist die Mobilität in beiden Ländern auch stark auf das Auto konzentriert, aber es gibt einen hohen Anteil von öffentlichem Verkehr, besonders Schienenverkehr. Ein Grund dafür ist sicherlich auch, dass 90 Prozent der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ihren Mitarbeitenden ein Jobticket komplett bezahlen. Vor allem Japan bietet ein hervorragendes Angebot. Was auch auffällt, wenn man auf die Straße schaut: In Südkorea sieht man so gut wie keine älteren Autos, dafür mehr Elektroautos als etwa in Japan. Sehr verbreitet sind die nationalen Konzerne, vor allem Hyundai und Kia. Dagegen fahren vergleichsweise wenige ausländische Marken, immerhin Mercedes und BMW. In Tokio und Japan ist das Bild ähnlich: Dort dominiert Toyota den Markt, und auch dort sind nur wenige ausländische Fahrzeuge sichtbar. Mercedes und BMW sind die Luxusfahrzeuge.

Was hat Sie dort überrascht?

Hermann: Japan war vor 10 bis 20 Jahren bei neuen Antriebstechnologien mit seinen Hybridfahrzeugen der globalen Entwicklung weit voraus. Jetzt sind sie bei neuen Technologien nicht mehr führend. In Sachen Elektromobilität sind sie lange nicht so weit wie wir, und das gilt auch für Südkorea, wobei Korea schon mehr elektrische Automobile als Japan auf die Straße gebracht hat. Was beiden Ländern fehlt, ist offenkundig eine richtige politische Strategie, wie man die Elektrifizierung und die Transformation der Fahrzeugindustrie voranbringt.

Hat Sie das enttäuscht?

Hermann: Enttäuscht nicht. Es hat mir gezeigt, dass wir gut sind, dass unsere Hersteller etwas Gutes anbieten. Überhaupt war die Reise anregend, hat viele interessante Einblicke gebracht, gute Kontakte und gute Gespräche. Wir haben mit der Delegation eine Art Fazit gezogen und festgestellt: Wir sind inzwischen ganz gut dabei, wir haben aufgeholt. Im Sport würde man sagen: Wir spielen vorne gut mit.

In welchen Bereichen sehen Sie denn Deutschland vorne?

Hermann: Klar im Bereich der Elektromobilität, da haben wir schon eine deutlich höhere Durchdringung. Auch bei der Ladeinfrastruktur sind wir deutlich besser aufgestellt. In Japan fehlt ein einheitliches Stromnetz, man hat noch 100 statt 220 Volt. Wir haben einen strategischen Ansatz zur Weiterentwicklung der Automobilindustrie zu klimafreundlichen Technologien. Das heißt, Politik, Zivilgesellschaft und Automobilwirtschaft reden miteinander über die gemeinsamen Zukunftskonzepte. Das habe ich dort so nicht erlebt, weil es eine klare Dominanz von sehr wenigen großen Konzernen gibt – Toyota in Japan, Hyundai und Kia in Südkorea. Diese Dominanz bringt es mit sich, dass die Konzerne stark bestimmen, wo es langgeht. Das ist bei uns besser verteilt. Ich glaube auch, dass der Einfluss und die Bedeutung von Politik bei uns im Sinne der Transformation besser sind.

Ginza, das Einkaufsviertel der japanischen Hauptstadt Tokio. © Christian Schall

Und wo haben Japan und Südkorea die Nase vorn?

Hermann: In Südkorea haben wir vor allen Dingen eines gelernt: „Balli, Balli“ (Anm.: ein Prinzip in Korea, auf Deutsch: „Schnell, schnell“), also nicht so lange reden, sondern einfach mal machen. Mit dieser Haltung hat sich Korea in 40 Jahren von einem armen Land zu einem der wirtschaftsstärksten und wohlhabendsten Länder der Welt entwickelt. Das ist schon beeindruckend. Von dem Beispiel kann man etwas lernen, damit man schneller wird. In Japan merkt man schnell, dass es eine sehr disziplinierte Gesellschaft ist. Der Verkehr ist sehr regelgeleitet und fließt sehr gut, ist gut organisiert. Die Menschen halten sich an die Regeln. Da können wir in Deutschland manches lernen. Bei uns hat man manchmal den Eindruck, eine rote Ampel wird von Fußgängerinnen und Fußgängern eher als Empfehlung genommen und nicht als klare, gültige Regel. Allerdings hat man in Japan manchmal das Gefühl, dass es zum Teil überreguliert ist und das Land wahrscheinlich noch größere Probleme mit der Bürokratie hat als wir.

Gab es bei der Mobilität irgendwelche Ideen oder Konzepte, die Sie kennengelernt haben und gerne auch bei uns etablieren würden?

Hermann: Wir haben zuletzt ein interessantes Start-up Unternehmen gesehen. A2Z kennt zum Beispiel beim autonomen Fahren die Anforderung an Level 4 (hochautomatisiertes Fahren) gut, hat darin Expertise. Es hilft, das Autonome Fahren zu entwickeln und bietet Pakete für Unternehmen an, um Level 4 zu erreichen. Das zeigt auch, dass Unternehmen in Japan und Südkorea innovativ sind und die Kompetenz zur Innovation gezielt entwickeln und weitergeben.

Was könnte die Entwicklung beim autonomen Fahren in Deutschland noch bremsen?

Hermann: Ich könnte mir vorstellen, dass es die deutschen Autofahrer sind, die lieber selbst fahren und denken, sie wären die besseren Fahrerinnen und Fahrer. Dabei zeigen Studien hier ein anderes Bild. Wahrscheinlich liegen die größten Barrieren nicht in der Technik, sondern bei uns Menschen, die wir gerne das Gewohnte weitermachen und sagen: Für was braucht man so was, ist das überhaupt notwendig? Das ist vor allem dadurch entstanden, dass die Autoindustrie über die Jahrzehnte gezielt die Liebe zum Auto und die Fähigkeit des Fahrers als Pilot gesteigert hat, auch durch Werbung und Erziehung. Davon muss man sich ein Stück weit lösen und sagen: Ich will gut transportiert werden und sicher ankommen. Man hat dann während der Fahrt auch Zeit, zu arbeiten, einen Film anzusehen, mit den Kindern zu spielen oder auch zum Beispiel online einzukaufen. Insbesondere aber könnte autonomes Fahren zum Game-Changer im öffentlichen Personennahverkehr werden, weil man die sogenannten ersten oder letzten Meilen selbst in Zeiten zunehmenden Fahrermangels bewältigen kann. Auch die On-Demand-Verkehre, also Bedarfsverkehre zum Beispiel in ländlichen Regionen und in Randzeiten, könnten zukünftig mit autonomen Shuttlebussen bedient werden.

In Deutschland stockte der Fortschritt der E-Mobilität zuletzt, und wir haben gehört, dass es in Südkorea ähnliche Vorbehalte gibt: Reichweitenangst, fehlende Ladeinfrastruktur und so weiter. Haben wir uns bei der Transformation vielleicht zu viel vorgenommen?

Hermann: Ähnliche Vorbehalte gibt es, aber wir sind auf einem deutlich höheren Niveau, was die Durchdringung der Elektromobilität anbelangt. Bei uns in Deutschland hat es im Wesentlichen auch dadurch einen Einbruch bei den Zahlen gegeben, dass die Förderprämie sozusagen über Nacht beendet wurde und dass auch Märkte weggebrochen sind, wie zum Beispiel in China. In Korea war das Haupthindernis, wie ich erfahren habe, ein sehr großer Brand in einer Tiefgarage unter einem Hochhaus. Dieser Brand wurde von einem Elektroauto ausgelöst, und das hat dort Ängste geschürt, die Technik sei vielleicht nicht sicher. Klar ist: Bei allen technologischen Entwicklungen geht es nicht einfach steil bergauf, sondern es gibt immer wieder Einbrüche und Probleme. Ich sehe übrigens nicht, dass wir jetzt einen absoluten Abbruch haben, sondern wir haben nicht die Steigerungsraten, die wir erwartet hatten. Seit diesem Jahr gehen die Zahlen wieder deutlich nach oben.

Sie sagen also weiterhin, der Weg dahin ist richtig?

Hermann: Der Weg ist absolut richtig. Ich habe auch mit diversen Managern und Führungskräften gesprochen, die alle gesagt haben: Auch wenn es jetzt langsamer geht, Elektromobilität ist im PKW-Sektor die Zukunft. Die Richtung stimmt.

Was bringt die Partnerschaft mit der japanischen Präfektur Kanagawa?

Hermann: Zunächst einmal hat sich bestätigt, dass es sehr gut war, dass sie vor 35 Jahren gestartet wurde. Wir haben viel gemeinsam, weil wir beide sozusagen das Powerhouse unseres Landes sind – innovativ und forschungsstark. In den Fachthemen können wir auf Augenhöhe wirklich gut miteinander arbeiten. Es war schon beeindruckend, wie positiv wir aufgenommen und begrüßt worden sind. Wir konnten in Japan und Südkorea positiv wahrnehmen, dass das Interesse an unseren Produkten und Unternehmen sowie an unserem Land sehr groß ist und dass die Menschen bestens informiert sind über das, was wir machen und wer wir sind.

Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (v.l.), Florian Hassler, Staatssekretär für politische Koordinierung und Europa im Staatsministerium Baden-Württemberg, und Yuji Kuroiwa, Gouverneur der Präfektur Kanagawa, beim Austausch im japanischen Yokohama. © Christian Schall

Wo sehen Sie Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Südkorea?

Hermann: Vor allem bei Start-ups oder Transformationsunternehmen. Das sind Unternehmen, die genau den deutschen und europäischen Markt beobachten und Interesse an uns haben. Wir haben einige sehr innovative Institutionen und Projekte gesehen, bei denen es sich geradezu anbietet, dass wir weiter zusammenarbeiten. Die Transformation ist in allen Ländern ein schwieriger Prozess – technisch, aber noch mehr gesellschaftlich. Deswegen ist es gut, Erfahrungen auszutauschen. Ich persönlich bin ein Anhänger von kooperativem Fortschritt statt kompetitivem Fortschritt. Manchmal ist der Wettbewerb gut, aber in der jetzigen Situation ist in meinen Augen Zusammenarbeit eher erfolgsversprechend.

Wie wichtig sind solche Reisen in politisch unsicheren Zeiten?

Hermann: Sie sind sehr wichtig. Es ist hilfreich zu sehen, dass es manche Aufgeregtheit, die es in Deutschland gibt, anderswo nicht gibt. Dabei sind Japan und Südkorea nicht in einer leichteren Situation, aber vielleicht sind sie auch ein Stück weit selbstbewusster. Wir sehen in Deutschland oft die Probleme und übersehen, dass wir auch sehr gut sind. Es wird viel gezaudert und gezögert, aber so erreicht man keinen Fortschritt, sondern nur mit Handeln. Jede Reise ist eine Bereicherung, weil man sieht, wie man anderswo ähnliche Probleme anders löst. Ich war sehr beeindruckt von der Disziplin auf der Straße in Japan, aber auch in Korea. Vor allem in Tokio ist es ja unglaublich, wie man in einer 35 Millionen Metropole so gut den Verkehr organisieren kann. Wir standen fast nie im Stau. Besonders beeindruckt haben mich in dem Zusammenhang auch die weit verbreiteten Express-Busspuren, auf denen die Busse zügig vorankamen, selbst wenn der Verkehr mal gestockt hat.

Zurück nach Deutschland, die wahrscheinlich künftige Bundesregierung hat unter anderem ein großes Sondervermögen für die Infrastruktur vereinbart. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten. Wo würden Sie prioritär das Geld in Baden-Württemberg einsetzen?

Hermann: Das Sondervermögen muss vorrangig dafür verwendet werden, dass wir das nachholen, was in den letzten Jahrzehnten bei der Infrastruktur versäumt wurde. Das ist im Wesentlichen Sanierung, aber nicht nur im Sinne von Erhalt oder Wiederherstellung des Alten, sondern auch im Sinne von Modernisierung. Ich denke da beispielsweise an das Ausrollen digitaler Infrastruktur etwa im Bereich der Schiene. Der Schienenknoten Stuttgart darf nicht der einzige digitale Knoten bleiben, und dieser muss vor allem verlässlich kommen. Ich glaube, dass wir uns wirklich darauf konzentrieren müssen, das System als Ganzes wieder funktionsfähig zu machen. Die Störungen sind ja gewaltig. Wir haben viele Baustellen auf der Straße, an Brücken. Die Bahn ist eine einzige Baustelle. Das ist in Japan nicht so. Diese Versäumnisse gilt es für mich vor allen Dingen aufzuholen. Und aus dem regulären Haushalt muss dann auch das Neue gestaltet werden, damit alles wieder besser funktioniert.

Und noch ein anderes Thema. In Mannheim und Ludwigshafen sind die Rheinbrücken ein Nadelöhr und müssen bald saniert werden. Deshalb wird in letzter Zeit auch über den Bau einer Seilbahn diskutiert. Wie stehen Sie zu diesem Verkehrsmittel?

Hermann: In Lateinamerika werden Seilbahnen schon länger als Nahverkehrsmittel genutzt, bei uns meistens bei Gartenschauen, zuletzt in Mannheim. Schon vor über fünf Jahren haben wir unsere gesetzliche Grundlage geändert, weil Seilbahnen darin nicht vorkamen. Wir haben gesagt, wir akzeptieren Seilbahnen als neue Variante des öffentlichen Verkehrs und fördern sie, als würde man eine U-Bahn oder Busstation bauen. Es gab mehrere Anfragen, zum Beispiel in Heidenheim und in Mannheim. In Stuttgart wird seit acht Jahren über die Seilbahn diskutiert. Ich würde mich riesig freuen, wenn aus dem Interesse auch ein Handeln folgen würde. Wir sind dabei, wir sind offen. Man muss einfach auch mal etwas Neues wagen, mutig nach dem koreanischen Motto Balli, Balli.

Winfried Hermann

Der 72-jährige Winfried Hermann von Bündnis90/Die Grünen ist seit 2011 Verkehrsminister in Baden-Württemberg.

Nach seinem Studium in den Fächern Deutsch, Politik und Sport an der Universität Tübingen arbeitete Hermann als Gymnasiallehrer in Stuttgart.

1984 zog er erstmals in den baden-württembergischen Landtag ein, von 1989 bis 1998 leitete er den Fachbereich „Gesundheit und Bewegung“ bei der Volkshochschule Stuttgart.

Von 1998 bis 2011 war Hermann Mitglied des Deutschen Bundestags, von 1992 bis 1997 Landesvorsitzender der Grünen in Baden-Württemberg. cs

Redaktion Redakteur in der Wirtschaftsredaktion

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