Mannheim. Wie (lange) wollen wir arbeiten? Diese Frage sorgt oft für Uneinigkeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zuletzt etwa bei den Lokführern. Verhandlungen werden dann besonders hart.
Streit über Arbeitszeit zieht sich auch durch die Geschichte. 1984 war es die Gewerkschaft IG Metall, die für ihre Beschäftigten die 35-Stunden-Woche (statt bisher 40) forderte. „Der nächste Sommer kommt bestimmt! Humaneres Leben, mehr Freizeit durch kürzere Arbeitszeiten!“, so der Slogan der Metallarbeiter. Doch nicht nur der Wunsch nach mehr Freizeit führte zu dieser Forderung. Mit dem Einzug von Robotern in die Fertigung wuchs die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust.
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Bei einer Gedenkveranstaltung sprach die IG Metall Mannheim kürzlich mit Zeitzeugen wie dem späteren Betriebsratsvorsitzenden „vom Benz“, Joachim Horner, oder Udo Belz vom Traditionsbetrieb Brown, Boveri und Cie (BBC), der später im schweizerischen Konzern Asea Brown Boveri (ABB) aufging, über die Ereignisse.
Neben einem gewissen Stolz auf das Erreichte heben sie den großen Druck hervor, unter dem die Gewerkschaftsmitglieder während des Arbeitskampfs standen. Denn die Arbeitgeberseite war nicht zu Kompromissen bei der Wochenarbeitszeit bereit und reagierte nach Warnstreiks und einer Urabstimmung pro Streikmaßnahmen mit so genannten Aussperrungen, also dem Ausschluss auch arbeitswilliger Belegschaft. „Die Aussperrungen waren das Problem, das hat die Belegschaft zerrissen“, erinnert sich Horner.
Erste Warnstreiks als „wichtige Weichenstellung“
Los ging es noch mit einer Welle von kürzeren Warnstreiks 1983, hier stand die 35-Stunden-Woche noch nicht im Fokus. Erstmals erwähnt wird sie im „Mannheimer Morgen“ am 1. März 1983. Die damals verhandelten Tarifrunden bezeichnete der damalige IG-Metall-Bevollmächtigte Xaver Ehrle als wichtige Weichenstellung im anstehenden Kampf um die Arbeitszeitverkürzung.
Zum Höhepunkt der siebenwöchigen Auseinandersetzung von Mitte Mai bis Anfang Juli 1984 waren mehr als eine halbe Million Arbeiter in Baden-Württemberg und Hessen von Aussperrungen betroffen. In Mannheim waren rund 21 000 Arbeiter ausgesperrt, etwa die Hälfte davon bei der damaligen Daimler-Benz AG.
Nur ein Teil der Betroffenen war als Gewerkschaftsmitglied finanziell abgesichert, Hunderttausende Arbeiter standen ohne Lohn unter großem finanziellem Druck. So stiegen die Kosten des Streiks für die Gewerkschaft.
Wie der „MM“ damals berichtete, sah IG-Metall-Funktionär Hans Preiss die Situation als existenziellen Kampf für die Gewerkschaft, Regierung und Arbeitgeber würden sie „niederzwingen“ wollen.
Letztlich jedoch hatten die Arbeitnehmer Erfolg. Im Juli wurde mit knapper Zustimmung der Metaller der Arbeitskampf „vorläufig“ beendet. Offiziell bestreikt wurde kein Betrieb, durch Aussperrungen kam es dennoch zu mehr als sieben Wochen Arbeitsniederlegung. „Die Einigkeit der Leute hat mich beeindruckt, das war zentral“, beschreibt Horner das Erfolgsrezept. Belz verweist zudem auf die Bedeutung charismatischer Gewerkschaftsfunktionäre, die in der heutigen Zeit fehlten.
Der Kompromiss von Schlichter Georg Leber, der einen schrittweisen Einstieg in die 35-Stunden-Woche vorsah, wird noch heute kritisch gesehen. Denn man war sich damals wie heute nicht einig, ob das Ergebnis positiv zu bewerten sei. So hatte die Belegschaft der BBC in Mannheim mehrheitlich gegen den Vorschlag gestimmt, erinnert sich Belz.
Gewerkschafter sehen Parallelen der damaligen Situation zu aktuellen Debatten
Der Einstieg in die 35-Stunden-Woche wäre zu weit nach hinten geschoben worden, kritisiert er den von ihm „Leber-Käse“ genannten Kompromiss, der insgesamt eine Mehrheit von knapp 55 Prozent erhielt. Dennoch sieht er in den Ereignissen von 1984 die Grundlage für aktuelle Debatten: „Die Diskussion über eine Vier-Tage-Woche heute ist das Ergebnis der 35-Stunden-Woche damals.“
Zwar sieht auch der Arbeitgeberverband Südwestmetall Verbindungen zu aktuellen Diskussionen, beurteilt die Ereignisse von 1984 jedoch deutlich kritischer. „Die Forderung der IG Metall nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit fiel in eine Zeit steigender Arbeitslosigkeit. Die Grundidee war, durch Verkürzung der Arbeitszeit die Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen und so Arbeitslosigkeit verringern zu können. Die Forderung bedeutete für Firmen bei verhaltenem Wachstum und zunehmendem internationalen Wettbewerbsdruck eine klare Überforderung“, erklärte ein Sprecher.
Arbeitgeber sehen Verantwortung nicht bei sich
Auch mit Blick auf aktuelle Debatten kritisiert der Verband Kürzungswünsche bei der Arbeitszeit. „Automatisierung oder KI werden dieses Problem nicht beseitigen, allenfalls helfen, es abzumildern. Wie der Wegfall von Arbeitszeit kompensiert werden soll, wenn schon Arbeitskräfte fehlen, diese Antwort sind die Fordernden bislang schuldig geblieben“, so Südwestmetall.
Die Verantwortung für die Eskalation des Konflikts zwischen IG Metall und Arbeitgebern 1984 sieht der Verband aufseiten der Arbeitnehmer. Die Ziele der „zu hohen“ Forderung habe man dennoch nicht erreicht. Auch nach dem Kompromiss stieg die Arbeitslosigkeit weiter. Zudem sieht Südwestmetall im Erfolg des Streiks eine Art Pyrrhussieg: Viele Firmen hätten aufgrund der Arbeitszeitverkürzung der Tarifbindung den Rücken gekehrt, so dass der Anteil von über 80 Prozent in den 80er-Jahren innerhalb weniger Jahre auf unter 60 Prozent gesunken sei.
Einig sind sich beide Seiten jedoch darin, dass sich die Zustände von damals wohl nicht mehr wiederholen werden. Man müsse andere Formen des Protests finden, meint IG-Metall-Chef Thomas Hahl.
So sehen das auch die Arbeitgeber: „Ähnliche Abläufe wie 1984 sind eher nicht zu erwarten – auch deshalb, weil es das Gleichgewicht der Kampfmittel (Streik und Aussperrung) nicht mehr gibt. Die letzte Aussperrung in der westdeutschen Metallindustrie gab es 1984. Seitdem haben sich internationale Verflechtungen deutlich erhöht. Eine Aussperrung würde bei den meisten Unternehmen mehr Schaden anrichten als Kosten sparen.“
Was zu einem fast unterwürfigen Appell der Arbeitgeber führt: „Die Gewerkschaften sitzen heute am längeren Hebel. Wir setzen darauf, dass der Realitätssinn der Gewerkschaft so groß ist, dass sie die Macht nicht zum Schaden von Betrieben und in der Folge auch der Beschäftigten ausnutzen.“
Die Lokführer setzten mit wiederholten Streiks die Reduzierung von 38 auf 35 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich jedenfalls ebenso erfolgreich durch wie die Metallarbeiter vor 40 Jahren. Der Einstieg soll – auch das eine Parallele zu damals – jedoch erst später eingeführt werden, nämlich in mehreren Stufen bis 2029.
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