Bergstraße. Mit viel Geschick schlägt Luca Stöger den Hammer auf den Nagel des Brettes und versenkt ihn nach wenigen Versuchen im Holz. Vor wenigen Minuten hat der 20 Jahre alte Einhäuser seinen Gesellenbrief erhalten und damit die Ausbildung zum Schlosser offiziell abgeschlossen. Dass das Spiel am Nagelbalken eigentlich etwas für Schreiner ist – mit möglichst wenigen Versuchen soll der Nagel im Brett versenkt werden –, stört an diesem Samstag im September niemanden. Denn in Bensheim bilden die rund 150 Gesellen heute eine große Gemeinschaft, wie auf dem Tag des Handwerks deutlich wird. Die Kreishandwerkerschaft Bergstraße hat wie jedes Jahr eingeladen, um die sogenannte Freisprechung der Auszubildenden zu feiern.
Schon von Weitem wurde den Besuchern an der Bensheimer Werner-von-Siemens-Straße klar: Hier sollen heute die Korken knallen. Rote und blaue Luftballons wehten am Eingang, Sonnenstrahlen wanderten über das Gesicht und das Blau des Himmels wurde nur von ein paar weißen Wölkchen verziert. Dann huschte eine Katze über die schattige Wiese. Viel besser hätte das Flair nicht sein können, um die Übergabe der Gesellenbriefe zu feiern. „Heute ist euer Tag“, sagte Kreishandwerksmeister Jörg Leinekugel zu den Absolventen der Elektro- und Maler-Innung.
Mit der Übergabe des Gesellenbriefes sind die Absolventen nicht nur ein „Teil unserer Gemeinschaft“, wie er hervorhob, sie sind auch das „Rückgrat der Region“. Denn für die Herausforderungen dieser Zeit braucht es Leinekugel zufolge Handwerker, die die Forschungsideen aus den Universitäten umsetzen, sie sozusagen auf die Straße bringen. Handwerk ist für den Kreishandwerksmeister daher mehr als Arbeit, es ist „Können, Kreativität und ein Stück Identität“. Mit ihren Fähigkeiten sind die Bergsträßer Gesellen folglich gefragte Mitarbeiter in ganz Deutschland.
Grundlage für die erfolgreiche Ausbildung der Handwerker ist die Zusammenarbeit mit der Heinrich-Metzendorf-Schule, der Berufsschule in Bensheim. Schulleiter Thomas Bährer blickte in seiner Rede auf die vergangenen Jahre zurück, in denen es bei manchen Lehrlingen „mal einen Durchhänger“ gegeben habe, die sich aber trotzdem durchgekämpft hätten. Daher richtete er seine Dankesworte an die Familien und Freunde der Gesellen, ohne deren Unterstützung der Abschluss für viele nicht möglich gewesen wäre. Überhaupt waren viele Familien auf der Verleihung.
Nach der ersten Runde am Samstagvormittag, bei der zudem die Absolventen der Bau-, Bäcker- und Zimmerer-Innung freigesprochen wurden, konnten sich die Kleinsten die Zeit im Hof der Kreishandwerkerschaft vertreiben. Dort stand ein „Heißer Draht“. Bei dem Geschicklichkeitsspiel muss eine Öse, ein meist aus Metall bestehender Ring, über einen Draht geführt werden. Berührt der Spieler mit dem Ring den Draht, ist das Spiel verloren. Mit viel Geduld und Ehrgeiz nahmen einige die Herausforderung an. „Die Kinder sind besessen davon“, sagte Manuela Merk, die den Stand des Geschicklichkeitsspiels mitbetreute. Wer sich weniger bewegen wollte, war beim Künstler Ouabi richtig. Ein verliebtes Pärchen saß auf einer Bank und ließ sich von ihm zeichnen. Das erforderte Geduld. Doch die Möglichkeit, sich mal porträtieren zu lassen, gibt es nicht oft.
Keine Angst vor der KI
Der Tag des Handwerks, das wurde am Samstag deutlich, bringt für einige Stunden viele Talente aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen zusammen. Da waren die Gesellen der Metall- und Schreinerinnung, die sich am Mittag wie die Absolventen der Sanitär-, Heizungs- und Klempner-Innung über ihre Freisprechung freuen durften – und damit fast eine Jobgarantie bekamen. Jedenfalls sagte Beatrix Schmidt, Obermeisterin der Schreiner-Innung Bergstraße, dass viele Jobs in Zukunft von Künstlicher Intelligenz bedroht seien und ersetzt werden könnten. „Das kann bei uns im Handwerk nicht passieren.“
Fast 50 Prozent Frauenanteil
Dass diese Berufswahl die Richtige sein kann, zeigte Siiri Gazzini aus Hirschhorn. Sie gehörte zu den fast 50 Prozent Frauen, die in diesem Jahr eine Schreiner-Lehre absolviert haben. Nach dem Abitur an der Augusta-Bender-Schule in Mosbach hat die heute 25-Jährige eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen, ist dann aber umgestiegen. Bereut hat sie es nicht. Die Ausbildung zur Schreinerin hat sie mit Auszeichnung bestanden und für sie besteht kein Zweifel, dass sie weiter in ihrem Beruf arbeiten möchte. „Der Job ist sehr vielfältig“, sagte Gazzini, die am Tag der Freisprechung zudem Geburtstag hatte. Die gemeinsamen Stunden mit ihren Freunden und Kollegen wird sie daher sicherlich in Erinnerung behalten.
Prägend war die Verleihung des Gesellenbriefes vermutlich auch für Hubert Kmiec. Der heute 20-Jährige hat nach seinem Hauptschulabschluss an der Geschwister-Scholl-Schule in Bensheim eine Lehre zum Bau- und Metallmaler absolviert. Jetzt möchte sich Kmiec nach seinem erfolgreichen Abschluss zum Maler und Lackierer weiterbilden. Denn auch das wurde auf dem Tag des Handwerks deutlich: Für viele ist die Gesellenprüfung nur eine Zwischenstation, Aufstiegschancen gibt es genug im Handwerk. Schließlich suchen die Betriebe in Deutschland weiter Nachwuchs für insgesamt 130 Handwerksberufe.
In den vergangenen Jahren habe sich auf politischer Seite viel getan, sagte Kreishandwerksmeister Leinekugel und verwies auf die Meisterprämie, die nach bestandener Prüfung vom Land Hessen gezahlt wird. Damit werde die Meisterausbildung finanzierbarer. Mindestens genauso wichtig, um weiter den Nachwuchs im Handwerk zu fördern, ist für Leinekugel, den Ruf der Ausbildung zu verbessern. Man müsse die vielfältigen Möglichkeiten des Handwerks „in die Köpfe der Familien bringen“.
Aushängeschild: Meisterbrief
Die Betriebe hätten volle Auftragsbücher, nur die Fachkräfte fehlten. Dietmar Schott, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Bergstraße, hob ebenfalls die Qualität der Ausbildung in Deutschland hervor und bezeichnete den Meisterbrief als „Aushängeschild“ für den weiteren Lebensweg. Mit diesem sind die Karrierechancen bekanntlich noch besser, zumal in den nächsten Jahren nach Angaben von Leinekugel etwa 30 Prozent der Berufstätigen in Rente gehen.
Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der fast 3500 Handwerksbetriebe im Kreis gibt es also, weshalb das Studium nicht immer die bessere Wahl sein muss. „Man braucht nur Mut“, sagte Schott. Mutig kann es vielleicht sogar sein, das Studium abzubrechen und einen neuen Weg einzuschlagen. So kooperiert die Kreishandwerkerschaft Bergstraße mit der Goethe-Universität in Frankfurt, um bei sogenannten Studienzweiflern auf sich aufmerksam zu machen. Gleichwohl gilt, dass sich Studium und Ausbildung nicht ausschließen müssen.
So gibt es auch immer wieder Absolventen, die nach der Ausbildung ein Studium absolvieren. Damit könnten die Bergsträßer Gesellen einen Beitrag an der Transformation der deutschen Wirtschaft leisten, indem sie ihr Wissen aus der Praxis in akademische Debatten einbringen. Schließlich werden die Anforderungen an Handwerker anspruchsvoller. Wer zum Beispiel Heizungen einbaue, brauche in modernen, digitalen Haushalten noch mehr technisches Wissen als früher, sagte Leinekugel. Die allgemeine Hochschulreife ist zwar keine Voraussetzung, aber Abiturienten sind für einen handwerklichen Beruf sicher nicht überqualifiziert. Das Handwerk steht daher vielen Neugierigen offen.
Gesellenbrief als Sprungbrett
Auch Wiktor Czapinski. Der 19 Jahre alte Maurer blickt auf eine „spannende“ Ausbildung zurück, wie er sagte. „Ich habe viele Dinge gesehen, die ich davor noch nicht kannte.“ Und das, obwohl Czapinski schon als Kind und Jugendlicher durch seinen Stiefvater mit dem Beruf in Kontakt kam. Nach dem Hauptschulabschluss an der Mittelpunktschule in Gadernheim stand für Czapinski daher schnell fest, dass er Maurer werden möchte. Große Pläne hat er noch nicht, erst mal möchte Czapinski weiterarbeiten, um mehr Berufserfahrung zu sammeln. Das ist sicherlich keine schlechte Entscheidung mit Blick auf die Zukunft.
„Das Land braucht mehr Handwerker als je zuvor“, sagte Obermeister Heiko Enders von der Elektro-Innung des Kreises. Er appellierte daher an die jungen Gesellen, sich mit „Esprit und Ideen ins Berufsleben zu stürzen“. Der Gesellenbrief sei ein Sprungbrett für den weiteren Lebensweg. Für die Absolventen des Kraftfahrzeuggewerbes gab es in den vergangenen Jahren schon einige große Sprünge. Obermeister Markus Bauer von der Kfz-Innung verglich die vier Lehrjahre mit einem Schaltgetriebe. Das erste Jahr sei wie der erste Gang gewesen. „Manchmal ruckelt es noch beim Anfahren.“ Doch mit dem Aufstieg ins zweite Lehrjahr und dem Schalten in den zweiten Gang hätten viele Lehrlinge „richtig Fahrt aufgenommen“.
Selbst nach der Übergabe des Gesellenbriefes muss für die Handwerker nicht Schluss sein. „So wie das Getriebe noch weitere Gänge kennt, öffnen sich für euch weitere Wege“, sagte Bauer und appellierte: „Legt den nächsten Gang ein und zeigt, was in euch steckt.“
Ähnlich sah es Markus Hill. Der Lehrer der Heinrich-Metzendorf-Schule sagte zu den Gesellen: „Ihr könnt immer nur bereuen, was ihr nicht gemacht habt.“ Auch für Schlosser Stöger aus Einhausen ist der Abschluss, den er schon im Winter erlangt hat, nur eine Zwischenstation. Eben hat er noch locker-lässig einen Nagel im Brett versenkt, jetzt denkt er über die weiteren Möglichkeiten seiner Laufbahn nach. Ein Ziel hat er schon. In zwei Jahren möchte Stöger die Weiterbildung zum Bautechniker mit der Fachrichtung Hochbau abgeschlossen haben, die mit dem Meistertitel oder einem Bachelor-Abschluss vergleichbar ist. Eigentlich sei dafür mehr Berufserfahrung nötig, aber die Heinrich-Metzendorf-Schule biete ein Programm, mit dem er schon jetzt erste Kurse belegen könne, erzählt Stöger.
Für ihn und die 150 Gesellen beginnt daher nun eine neue Lebensphase. Wer sich an diesem Tag mit solch motivierten Talenten unterhält, versteht daher, wenn Kreishandwerksmeister Jörg Leinekugel zu den Gesellen sagt: „Jetzt geht es erst richtig los.“
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