Fußball

Wieso der WM-Titel ein tief gespaltenes Argentinien zusammenschweißt

Die Lage in Argentinien ist dramatisch. Die Inflation erdrückt das Land förmlich. Doch der Titelgewinn bei der Fußball-WM in Katar sorgt dafür, dass soziale Grenzen und Hierarchien zumindest kurzzeitig verschwinden

Von 
Tobias Käufer
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Die Argentinier feiern den WM-Triumph der „Albiceleste“ und Lionel Messi, dessen Gesicht auf den Obelisken in Buenos Aires projiziert wird. © Matilde Campodonico//dpa

Es dauerte ein paar Stunden bis es auch die Argentinier aus den weniger betuchten, dafür aber weit entfernten Vierteln auf die Avenida Callao schaffen. Aus den klapprigen Bussen sind Gesänge zu hören, die Menschen stecken ihre Köpfe aus den Fenstern. „Argentina Campeon“, rufen sie. „Cada dia te quiero mas“ - Jeden Tag mag ich Dich mehr. Argentinien Weltmeister, ehe sich auch dieser Bus in die endlos lange Autokarawane einreiht, die versucht, so nahe wie möglich an den Obelisken heranzukommen.

Für alle Argentinier unter 40 Jahre ist es die erste Erfahrung eines WM-Gewinns, so lange liegt der letzte Triumph von Diego Maradona und Co. 1986 zurück. Auch deshalb platzt aus ihnen die Freude heraus. Ein paar Waghalsige erklimmen die Laternen, ein Verrückter klettert sogar auf die Spitze des Obelisken.

Es ist ein Moment, der zeigt, dass die Freude über den insgesamt dritten WM-Titel das Land, dessen Volk sonst so sehr in zwei politische Lager gespalten ist, vereinen kann. Die Luxuskarossen und die Rostlauben, die Armen und die Reichen - sie alle vermischen sich in einer großen Jubeltraube. Ihr Einheitsoutfit: Das weiß-himmelblaue Trikot mit der Nummer 10 und dem Namen Messi hinten drauf. Es lässt zumindest an diesem Tag soziale Grenzen, Hierarchien oder Klassen verschwinden.

Messi als politische Schlüsselfigur

Die Journalistin Pola Oloixarac von „La Nacion“ beschreibt diesen zusammenschweißenden Effekt der „Albiceleste“ mit einem durchaus passenden Vergleich: „Die Nationalmannschaft ist das, was die britische Krone für England ist. Sie vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl und lässt eine Frusttoleranz zu.“ Die Lage im Land ist ansonsten dramatisch: Im Vorjahresvergleich lag die Inflation im abgelaufenen Monat bei rund 88 Prozent, alles und jeder jagt in Argentinien nach dem US Dollar, denn der Peso in der Tasche verliert praktisch im Wochentakt an Wert.

Hinter den Kulissen hat bereits ein knüppelharter Kampf um die Bilder begonnen. Wer darf sich wann und wo mit der Nationalmannschaft zeigen. Nur der Präsident, Alberto Fernandez, oder auch seine extrem einflussreiche Vizepräsidentin Cristina Kirchner - oder auch Horacio Rodríguez Larreta, der konservative Bürgermeister von Buenos Aires. Jeder will in der Nähe von Superstar Lionel Messi sein. Ein historisches Foto mit Argentiniens „Messias“, wie ihn ein TV-Reporter nannte, kann auf die eigene Popularität abfärben. So wird auch Messi eine politische Schlüsselfigur der nächsten Monate.

Für Fernandez ist dieser Sieg eine große, unverhoffte Chance. Zuletzt gelang es auch die Inflationsraten zu stabilisieren, der Ausblick auf das kommende Jahr ist nicht mehr ganz so schlecht wie noch vor ein paar Monaten. Und in der Regel färbt so ein epischer Triumph dann auch auf das Wahlverhalten ab. Ende nächsten Jahres stehen in Argentinien Präsidentschaftswahlen an. In Argentinien ändert sich in zwei Wochen alles, aber in 30 Jahren nichts, wie ein geflügeltes Wort sagt.

Korrespondent Auslandskorrespondent in Lateinamerika

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