Frankfurt. Die Gefühlseruption nach dem späten Ausgleich in der Nachspielzeit stimmte Julian Nagelsmann erstaunlich milde. Der Bundestrainer hatte „eine taktisch sehr gute erste Halbzeit“ gesehen, und ohnehin sprächen alle relevanten Zahlen für das deutsche Team. 19:4 Torschüsse, fast 70 Prozent Ballbesitz, 68 Prozent gewonnene Zweikämpfe. „Das war eine sehr gute Probe für K.o.-Spiele. Ein gutes Zeichen, das wir zurückkommen können“, so Nagelsmann nach dem 1:1 gegen die Schweiz. Ein Remis, durch Niclas Füllkrugs Jokertor sehr spät realisiert (90.+2), das der DFB-Elf den Gruppensieg bescherte. Auf dem Papier hat die weiterhin ungeschlagene deutsche Auswahl ihr Zwischenziel also erreicht.
Dennoch muss man hoffen, dass der Bundestrainer die bisher schwächste Turnierleistung intern deutlich kritischer analysiert. Der fahrige und zu behäbige Spielaufbau, die Probleme, über die Flügel in die gefährliche Zone zu kommen, nachdem das vielbeinige Schweizer Zentrum die Wege für die Zauberfüße Jamal Musiala oder Florian Wirtz effektiv zugesperrt hatte. Und wenn die „Nati“ aus dem Nachbarland mal den Ball erobert hatte, ging es derart zielstrebig mit Vertikalpässen in die die gegnerische Hälfte, dass die deutsche Innenverteidigung um Antonio Rüdiger und Jonathan Tah gegen die bulligen Schweizer Angreifer Breel Embolo und Dan Ndoye, der zum 1:0 traf (28.), einem richtigen Stresstest ausgesetzt war.
England, Dänemark, Slowenien oder Serbien im Achtelfinale
Ilkay Gündogan, in Frankfurt ebenfalls kaum im Spiel, gestand die unübersehbaren Defizite wenigstens ein. „Es ging heute darum, dagegen zu halten. Spielerisch war das Spiel nicht auf dem Niveau, das man von uns kennt“, sagte der Kapitän. Und weil Toni Kroos, den die Schweizer als Keimzelle des deutschen Ballbesitzspiels ausgemacht hatten und dementsprechend permanent bearbeiteten, den schwächsten Auftritt im DFB-Trikot seit seinem Comeback im März zeigte, half am Ende nur noch die Brechstange.
Flanke David Raum, Kopfball Füllkrug. „Wir haben zum wiederholten Mal gezeigt, dass wir mit einem Rückstand umgehen können, dass wir an uns glauben bis zu Ende“, sagte Kroos.
In Sachen Mentalität und Leidenschaft konnte man dem deutschen Team tatsächlich keinen Vorwurf machen. Alle auf dem Rasen stemmten sich gegen die Niederlage. „Ich glaube, dass man solche Spiele auch braucht während eines Turniers. Das kann Kräfte für die hoffentlich nächsten Spiele entfachen“, meinte Gündogan.
Der 33-Jährige sprach im Plural, aber erst einmal muss das Achtelfinale am Samstag (21 Uhr) gewonnen werden. In Dortmund, traditionell eines der Lieblingsstadien der DFB-Elf. Man denke nur zurück an die WM 2006, als Oliver Neuvilles Tor zum 1:0 in der Nachspielzeit gegen Polen die Wirkung eines emotionalen Brandbeschleunigers für den Rest des Turniers entwickelte.
Durch den Gruppensieg vermied der Weltmeister von 2014 ein mögliches Achtelfinalduell gegen Angstgegner Italien, mit dem sich nun möglicherweise die Schweizer am Samstag (18 Uhr) in Berlin auseinandersetzen müssen.
Für die Deutschen geht es stattdessen gegen den Zweiten der Gruppe C, in der es eine interessante Konstellation gibt: Vor dem letzten Spieltag am Dienstagabend können noch alle vier Nationen der nächste Gegner der DFB-Elf werden. England (4 Punkte/2:1 Tore), Dänemark (2/2:2), Slowenien (2/2:2) und sogar Serbien (1/1:2).
„Ich finde alle vier Mannschaften unbequem“, sagte Nagelsmann. Die Analysten hätten bereits Spielszenen aller vier Teams vorgeschnitten. „Am Mittwochfrüh geht es dann in die Feinjustierung“, erklärte der Bundestrainer. Ideal sei es zwar nicht, zwei Tage auf seinen Achtelfinalgegner warten zu müssen. Andererseits: „Wir haben auch zwei Tage mehr Regeneration.“ Klar ist seit Sonntagabend auch, wie der weitere deutsche Weg durch das Turnier aussehen könnte.
Bei einem Viertelfinaleinzug warten womöglich bereits die hochgehandelten Spanier am 5. Juli in Stuttgart. Im Halbfinale am 9. Juli ginge es noch einmal zurück nach München, den Austragungsort des Eröffnungsspiels gegen Schottland (5:1), bevor das Finale am 14. Juli dann im Berliner Olympiastadion ausgetragen wird.
Das ist aber wirklich noch ferne Zukunftsmusik, vor allem eingedenk des fehlerbehafteten Auftritts gegen die Schweiz. Zumal Nagelsmann im Achtelfinale erstmals im Turnierverlauf seine Startformation ändern muss. Jonathan Tah ist nach seiner zweiten Gelben Karte gesperrt, auch hinter dem zweiten Innenverteidiger Antonio Rüdiger (Oberschenkelzerrung) steht ein großes Fragezeichen. „Wir hoffen, dass es nichts Schlimmes ist“, hatte der Bundestrainer am Sonntag noch gesagt.
Erster Einwechselspieler in der Defensive gegen die Schweiz war der Dortmunder Nico Schlotterbeck. Nagelsmann schrieb aber auch dem Stuttgarter Verteidiger Waldemar Anton eine realistische Startelf-Chance im Achtelfinale zu. „Nico und Waldi liefern sich da ein Duell. Beide hätten es verdient, weil sie es sehr gut machen“, sagte der Bundestrainer. Empfehlen können sich beide erst wieder am Mittwoch, wenn das DFB-Team nach dem trainingsfreien Dienstag in die Vorbereitung auf das Achtelfinale startet. Dann steht auch der Gegner fest.
DFB-Splitter
Das Last-Minute-Tor von Niclas Füllkrug zum 1:1 gegen die Schweiz hat den Nationalspielern auch eine erste Prämie bei der Heim-EM beschert. Für den Gruppensieg erhält jeder der 26 deutschen Spieler vom DFB 50 000 Euro. Dieser Betrag kann sich im Turnierverlauf aber noch bis zur Rekordprämie von 400 000 Euro bei einem Titelgewinn erhöhen.
Die internationale Presse ordnete die deutsche Leistung gegen die Schweiz kritisch ein. „Ein uninspiriertes Deutschland erkämpfte sich ein 1:1-Unentschieden gegen die Schweiz“, schrieb die französische Sportzeitung „L’Equipe“. Die „New York Times“ urteilte: „Füllkrug ist der Retter, aber der Gastgeber sieht verwundbar aus.“ Auf der britischen Insel macht man sich allerdings schon Sorgen, im Achtelfinale auf den Gastgeber zu treffen. „Das späte Ausgleichstor der Gastgeber bedeutet, dass England Slowenien besiegen muss, um ein Alptraum-Achtelfinale gegen Deutschland zu vermeiden“, hieß es in der „Sun“.
Ein Straßenfeger: Beim 1:1 gegen die Schweiz schalteten am Sonntagabend in der ARD 25,57 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer ein. Der Marktanteil betrug 73,4 Prozent. Das Duell war das bisher meistgesehene Spiel bei der EM 2024.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/sport_artikel,-sport-warum-sich-die-dfb-elf-im-achtelfinale-dringend-wieder-steigern-muss-_arid,2218861.html