Frankfurt. Von den bisherigen Eindrücken ausgehend, hatte Deniz Undav während seiner Schulzeit mehr Spaß am Sport als am Matheunterricht. Eine Ausnahme ist er damit wohl nicht. Kicken statt Cosinus - und für wen spielte noch mal Pythagoras?
Was Undav möglicherweise von seinen Mitschülern unterschied, war seine Fähigkeit, sich mathematischen Aufgabenstellungen intuitiv zu nähern. Das ist ansonsten eher inselbegabten Rechenkünstlern vorbehalten.
EM-Vorrunde: Ringen um den besten Tabellenplatz
Wer den Spielplan der EM in Gänze durchdringt, kann sofort bei Versicherungen als Risikomanager anfangen. Oder sich als künstliche Intelligenz verdingen. 16 Teams aus den teilnehmenden 24 gilt es, herauszufiltern, um ein regelkonformes Achtelfinale spielen zu können. Dafür dürfen die vier besten Gruppendritten in die K.-o.-Runde vorrücken und an dieser Stelle enden die Vorhersagen in einem schwarzen mathematischen Loch.
Selbstverständlich ist ein Großteil des deutschen Teams daran interessiert, welcher Gegner ihm denn im Achtelfinale gegenübersteht. Das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann hat nur das Minimum von zwei Spielen benötigt, um sich dafür zu qualifizieren. Das abschließende Gruppenduell mit der Schweiz am Sonntag (21 Uhr/live in der ARD und bei Magenta-TV) dient nun dazu, die Tabellenplätze eins und zwei auszuspielen.
Leichterer Turnierweg für die Nationalelf als Gruppenzweiter?
Für Undav hat die Konsequenz dessen aber keine Bedeutung. „Ich habe sogar gedacht, dass wir gegen Italien spielen würden, wenn wir ins Achtelfinale kommen. War falsch. Ich nehme es, wie es kommt“, sagte er. Tatsächlich würden es die Deutschen mit den Italienern im Achtelfinale zu tun bekommen, wenn beide Mannschaften Gruppenzweiter werden. Der Gefühlsmathematiker lag also gar nicht so falsch.
Möglicherweise wäre es sogar der leichtere Weg, um sich durch die Verästelungen des Turnierbaums zu schlagen. Als Gruppenerster nämlich würden aller Voraussicht nach im Viertelfinale die Spanier warten, die bislang einen hervorragenden Eindruck hinterlassen haben.
Führich und Undav beschweren sich nicht, sondern sind dankbar
Aber Form schlägt mathematische Funktion. Daher wird Nagelsmann wohl erneut jene Elf spielen lassen, die in den ersten beiden Partien zu Beginn auf dem Platz stand. Das deutete der Bundestrainer nach dem 2:0 gegen Ungarn an. Es gibt eben keinen Ersatz für Siege und Selbstvertrauen.
Vor dem Turnier hatte der Coach seine Ersatzspieler in jenen Gesprächen auf ihre Rolle eingestellt, die im deutschen Fußballkanon zwischen Bahia und Berner Wunder stehen. Bislang scheint niemand der Rollenspieler dem Glauben aufzusitzen, dass er nun eine größere Rolle verdient: Haupt- statt Nebendarsteller. Undav wie auch sein Teamkollege vom VfB Stuttgart, Chris Führich, freuten sich ehrlich und inständig, dass sie gegen Ungarn ein paar Minuten spielen durften. „Das war ein ganz besonderes Erlebnis. Für uns ist ein Traum in Erfüllung gegangen“, so Führich.
Nagelsmann betonte schon vor der EM die Bedeutung der Joker
Für einige andere Spieler ist zumindest dieser Traum noch nicht in Erfüllung gegangen. In der Defensive scheute Nagelsmann bislang Auswechslungen. Daher sind unter anderem Robin Koch, Waldemar Anton und Nico Schlotterbeck noch ohne EM-Minute.
Das dürfte sich bald ändern. Mit Antonio Rüdiger und Jonathan Tah sind die beiden gesetzten Innenverteidiger bereits mit einer Gelben Karte belastet. Nach der nächsten Verwarnung müssen sie eine Partie aussetzen. Unwahrscheinlich, dass sie gemeinsam ohne Sperre durch das Turnier kommen.
Impulse von der Bank sind für das DFB-Team wichtig
Nagelsmann wird bemüht sein, den bisherigen Bankakteuren ein paar Minuten zu spendieren, um so etwas Ähnliches wie Spielpraxis zu sammeln. Vor dem Turnier hatte er darauf hingewiesen, dass die Spiele meist entschieden werden, wenn die ersten Auswechslungen getätigt worden sind. Er wollte damit auf die Bedeutung der Joker hinweisen. Hier nun aber könnte sich eines der wenigen Probleme der deutschen Mannschaft verstecken. Leroy Sané wurde dem Kader explizit als Spieler hinzugefügt, der von der Bank kommend das Spiel auf die deutsche Seite wenden kann. Doch ausgerechnet Sané wollte bei seinen Einsätzen nur wenig gelingen.
Spätestens in der K.-o.-Phase aber wird die DFB-Elf auf Impulse von der Bank angewiesen sein. Das Schweiz-Spiel bietet die letzte - und auch einzige - Möglichkeit während des Turniers, den Ergänzungsspielern Spielminuten ohne Druck zu geben. Die Wechsel dürften auch Auskunft darüber geben, wer nun welche Rolle in Nagelsmanns Gedankenspielen einnimmt.
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