Mannheim. Herr Lange, in den vergangenen Jahren hatte sich die deutsche Nationalmannschaft von den Fans entfremdet. Das Interesse am DFB-Team war gefühlt nahe am Nullpunkt. Wie hat es die deutsche Mannschaft geschafft, dass sich die Menschen im Land bei dieser Heim-EM wieder emotional hinter der Nationalelf versammelt haben?
Harald Lange: Diese Versammlung hinter dem Team hat sukzessive stattgefunden. Wir haben in unseren Studien gemessen, dass die Vorfreude auf das Turnier in der Bevölkerung vor den erfolgreichen Testspielen gegen Frankreich und Holland im März unterirdisch war. Da wurde dann der Schalter umgelegt. Seitdem sind die Fans hoffnungsvoll in das Turnier gegangen, hatten aber auch höchste Erwartungen. Es werden in erster Linie Event- und Teilzeit-Fans über die Nationalmannschaft angesprochen – und die lassen sich schnell in den Bann ziehen.
Welchen Beitrag hat Bundestrainer Julian Nagelsmann?
Lange: Er hat wirklich mutige Entscheidungen getroffen – das hätte auch schiefgehen können. Nagelsmann hat um Toni Kroos eine neue Mannschaft aufgebaut und mit alten Traditionen gebrochen. Er hat neuen Spielern eine Chance gegeben und der Bundesliga-Realität Rechnung getragen, wo nicht mehr Bayern München dominiert hat, sondern Vereine wie Leverkusen und Stuttgart. Das Drehbuch bei der EM hätte man dann kaum besser schreiben können . . .
Warum?
Lange: Beim Eröffnungsspiel hat Schottland vor allem wegen seiner Fans beeindruckt. Die Schotten haben gezeigt, wie schön es ist, sein Team zu feiern, selbst wenn man weiß, dass man im Grunde keine Chance hat. Die haben München und später Köln mit ihrer Partystimmung auf den Kopf gestellt. Das hat dieser EM vom ersten Tag an einen fröhlichen Stempel aufgedrückt und die deutschen Fans dann letztlich auch mitgerissen.
Wie haben Sie das bemerkenswerte Abschlussstatement von Nagelsmann wahrgenommen, der fast im Stile eines Bundeskanzlers dazu aufgerufen hat, als Gesellschaft wieder mehr zusammenzuhalten und die Vorzüge des Lebens in Deutschland wertzuschätzen?
Lange: Das waren sehr wohlklingende und wohltuende Sätze. Die Aussagen haben eine Riesen-Resonanz und viel positives Echo bekommen, weil man daran glaubt, der Fußball könne eine Initialzündung setzen.
Glauben Sie, dass ein solcher Appell auch politische Effekte zeigen kann, etwa bei den anstehenden Landtagswahlen im Osten?
Lange: Da bin ich skeptisch. Nagelsmanns Pressekonferenz ist jetzt ein paar Tage her, und es ist alles schon wieder abgekühlt. In zwei Wochen ist es womöglich Geschichte und niemand erinnert sich daran.
Die EM war eine absolute Bewerbung, künftig solche Turniere wieder in echte Fußballnationen zu vergeben
Die Stimmung in den Stadien und Städten war fantastisch. War die EM 2024 ein flammendes Plädoyer dafür, Turniere wieder in Länder zu vergeben, die über eine große Fußballkultur und -tradition verfügen?
Lange: Das ist ein guter und richtiger Punkt. Die EM war eine absolute Bewerbung, künftig solche Turniere wieder in echte Fußballnationen zu vergeben. Mein Eindruck war, dass die Stimmung von Spieltag zu Spieltag besser geworden ist. Die Fans haben bei dieser EM demonstriert: Genau so wollen wir diesen Sport haben!
Sie haben Schottland und seine enthusiastischen Fans bereits angesprochen. Es ist viel über das erweiterte Teilnehmerfeld der EM diskutiert worden, vor allem mit Blick auf die sportliche Qualität des Turniers. Wenn man auf die riesige Freude blickt, die neben den Schotten auch die Fans aus Georgien und Albanien in die Stadien und Städte getragen haben: Muss man nicht sagen, dass die Ausweitung auf 32 Teilnehmer komplett richtig war, weil die Europameisterschaft so zu einem großen internationalen Fußball-Fest werden konnte?
Lange: Das würde ich sagen, ja. Der Spruch, dass es keine kleinen Fußball-Nationen mehr gibt, hat in den vergangenen Wochen eine Bestätigung bekommen. Es waren viele enge Spiele dabei und das spricht aus sportlicher Sicht dafür, so ein Turnier breiter aufzustellen. Die Erweiterung habe ich bislang kritisch gesehen, aber die EM hat klare Argumente dafür geliefert, dass es richtig war, es größer werden zu lassen.
Diese EM war nicht frei von politischen Spannungen. War der türkische „Wolfsgruß“, bei dem nicht nur der Spieler Merih Demiral nach seinen Toren gegen Österreich mit seiner Geste einer rechtsextremen Bewegung huldigte, das beste Argument dafür, politische Meinungsäußerungen wirklich aus den Stadien herauszuhalten, wie es UEFA und FIFA versuchen?
Lange: Wenn ein Spieler das Bedürfnis hat, eine politische Botschaft zu senden – egal in welche Richtung –, dann muss er das machen. Er weiß auch, welches Risiko er in Kauf nimmt. Jetzt haben wir bei der Türkei ein Beispiel, wo wir sagen: Das geht überhaupt nicht, das muss bestraft werden. Als bei der vergangenen EM Leon Goretzka nach seinem Tor gegen Ungarn die Herz-Geste für Toleranz zeigte, wurde er gefeiert. Man kann politische Meinungsäußerungen ohnehin nicht vollends unterdrücken, deshalb muss man es zulassen und sich als Verband damit auseinandersetzen und gegebenenfalls sanktionieren.
Man kann politische Meinungsäußerungen ohnehin nicht vollends unterdrücken, deshalb muss man es zulassen und sich als Verband damit auseinandersetzen und gegebenenfalls sanktionieren.
Eine schwierige Gemengelage.
Lange: Es wäre naiv zu sagen, wir wollen Politik aus dem Sport heraushalten. Zumal wir in anderen Zusammenhängen, siehe die staatsmännischen Nagelsmann-Äußerungen, so etwas ja sehr begrüßen. Das erwarten wir sogar vom Sport, einen Beitrag zur Meinungsbildung zu leisten. Da eckt der Fußball auch mal an, aber die UEFA hat gezeigt, wie konsequent sie dann mit solchen Vorgängen umgeht und Demiral gesperrt.
Die Entwicklung beim VAR, dem Videobeweis, schreitet immer weiter voran. Bei dieser EM gab es eine halb-automatische Abseitserkennung und einen Chip im Ball, der unter anderem zur Ahndung von Handspielen eingesetzt wurde. Befinden wir uns auf direktem Weg in die Fußball-Technokratie, in der die Technologie die Emotionen zerstört?
Lange: Ganz genau, auf diesem Irrweg sind wir. Und wir sind bei dieser EM, mit den Entscheidungen die getroffen wurden, diesen Weg bedenklich schnell gegangen. Wir müssen als Sportler nicht alles tun, was technologisch machbar wäre. Sport wird immer von Menschen hervorgebracht und auch von ihnen reglementiert. Der humane Aspekt ist wichtiger, als wir bisher glaubten. Das haben der deutschen Mannschaft die verschiedenen Handspiele, die mal für und mal gegen uns entschieden wurden, eindrucksvoll gezeigt. Was bringt uns ein Torjubel unter Vorbehalt? Gar nichts, der macht das Spiel kaputt. Die Aussicht, dass man mit Technologie den Sport gerechter machen könnte, hat sich spätestens nach dem nicht gegebenen Handelfmeter gegen Spanien in Luft aufgelöst. Das Chaos ist noch größer geworden. Ich plädiere dafür, die Technologisierung bei der Spielleitung zurückzuschrauben, am besten ganz aufzulösen.
Fanforscher Harald Lange
- Harald Lange (56) ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, Gründer des Instituts für Fankultur e.V. und Dozent an der Trainerakademie des DOSB in Köln. Er gilt als einer der renommiertesten Fanforscher der Bundesrepublik.
- Zuvor war Lange unter anderem Professor für Sportpädagogik an einer Pädagogischen Hochschule (2002-2009) und Gastprofessor an der Uni Wien (2008-2009). Er lebt mit seiner Familie in Nordhessen.
- Lange hat mehr als 250 wissenschaftliche Arbeiten publiziert – davon mehr als 50 Bücher und Sammelwerke. Für das „Zeitspiel“-Magazin schreibt er die Kolumne „Gedanken zum Spiel“.
Kommen wir zurück zur deutschen Nationalmannschaft. Was muss der DFB tun, um die Aufbruchsstimmung zu konservieren, damit die Heim-EM nicht nur ein kurzes Aufflackern bleibt?
Lange: Die Gefahr besteht. Der DFB muss die sportliche Situation ganz sorgfältig analysieren, da hatte der Verband bei den vergangenen Turnieren die größten Probleme. Sportlich, aber auch in Hinblick auf Fanbindung und die Dramaturgie dieses Turnieres. Die deutsche Mannschaft ist eben „nur“ bis ins Viertelfinale gekommen. Auch wenn das mit Blick auf die Vorgeschichte ein richtig guter Erfolg war, aber es ist nicht das, was das Fußball-Volk auf Dauer haben will. Deshalb hat Nagelsmann ja auch gesagt, dass er jetzt Weltmeister werden will. Damit hat er den Maßstab gesetzt – und der wird in den kommenden Monaten und Jahren seine Wirkung zeigen. Vor allem, wenn die Ergebnisse nicht so sein sollten.
Und abseits des Sportlichen?
Lange: Wir haben bei dieser EM gesehen, dass es Nationen gibt, die ihre Mannschaft feiern und sich mit ihr identifizieren – wohlwissend, dass die Ergebnisse nicht stimmen könnten. Das muss sich der DFB genau anschauen, um Fans auf andere Weise als nur über Erfolg zu binden. Der Nagelsmann-Appell nach dem Ausscheiden wäre da schon mal ein guter Anhaltspunkt. Und man muss darüber nachdenken, wie man wieder eine Brücke zur aktiven Fanszene in der Bundesliga schlagen. Die Ultras haben den DFB als Feindbild verewigt und waren in den EM-Stadien wenn überhaupt „undercover“ präsent. Das ist bei Nationen wie Italien, Frankreich oder Spanien schon anders, da kommen auch die Club-Fans. Der DFB muss die neuen Fanclubs, die jetzt neben dem offiziellen Fanclub Nationalmannschaft entstanden sind, pflegen. Das muss weiter wachsen.
Blicken wir auf die nächsten großen Fußball-Turniere. Die WM 2026 findet in Mexiko, Kanada und den USA statt, die nächste EM in Großbritannien und Irland. Dann droht am Horizont aber schon wieder ein Problemturnier, die WM 2034 dürfte in Saudi-Arabien über die Bühne gehen. Glauben Sie daran, dass Turniere wie diese EM bei UEFA und FIFA für einen Prozess des Umdenkens sorgen, Großveranstaltungen eben nicht mehr in Länder ohne Fußballkultur zu vergeben?
Lange: Es ist leider davon auszugehen, dass sie weiter dahingehen werden, wo sie das meiste Geld erwirtschaften könne. Das wird auch von den Top-Funktionären mit breiter Mehrheit so zelebriert werden, ungeachtet der Stimmungslagen in den einzelnen Ländern.
Das klingt nach einer traurigen Prognose.
Lange: Ja, das ist fatal. Und DFB-Präsident Bernd Neuendorf schwimmt da jetzt schon munter mit. Im Fall Saudi-Arabien wird noch eine Symbolpolitik vorgeschoben, nach dem Motto: Wir schauen uns das ganz kritisch an. Aber am Ende macht man nichts dagegen, weil man vom System FIFA irgendwo auch abhängig ist. Der DFB ist als weltweit größter Fußballverband in den vergangenen Jahren durch seine Außenpolitik derart in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, dass es erschreckend ist. Der Verband bräuchte in den internationalen Gremien charismatische Sportpolitiker, die nicht nur mitlaufen. Wenn es hart kommt und wehtut, muss man auch mal Flagge zeigen.
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Bergsträßer Anzeiger Plus-Artikel Kommentar Nach dem EM-Aus gegen Spanien: Das Gerüst für eine schöne Zukunft steht schon