Darmstadt. Im ersten Moment war nicht so klar, ob mehr Bier oder mehr Tränen flossen. Etliche Fans, aber auch die eigentlichen Protagonisten im Stadion am Böllenfalltor, weinten jedenfalls hemmungslos, als der Ausnahmezustand nach einem friedlichen Platzsturm um sich griff.
Das ganze Wochenende widmete Darmstadt seinen Lilien, die nach sechs Jahren wieder die Bundesliga bereichern wollen. Mit einer Aura, die noch etwas Anarchisches besitzt. „Ein Traum, der in Erfüllung geht“, stammelte Torhüter Marcel Schuhen, dessen Paraden am Freitagabend den 1:0-Zittersieg gegen den 1. FC Magdeburg sicherten. Ehe der 30-Jährige in der enthemmten Menge feierte, sagte er noch, er habe „einen vernünftigen Job“ gemacht, was natürlich gewaltig untertrieben war. Ein Verein aus dem Etat-Mittelfeld im Unterhaus kommt nicht hoch, wenn nicht alle in einer Saison über sich hinauswachsen. Vom Torwart bis zum Präsidenten.
Präsident Rüdiger Fritsch: „Ich erwarte Respekt“
Letzterer heißt Rüdiger Fritsch und findet auch in turbulenten Zeiten immer die richtigen Worte. „Jetzt ist Klein-Darmstadt da, und ich erwarte Respekt dafür“, stellte das Vereinsoberhaupt klar. Der Wirtschaftsanwalt führt den Club seit 2012 mit weitreichenden Befugnissen. „Für uns ist das wie für andere die Champions League. Von außen kann das keiner richtig schätzen, wie viel Kraft, Energie und auch Tränen reingesteckt werden, um so etwas zu erreichen“, erklärte Fritsch. „Wir haben es die letzten Jahre als Lilien-Familie nicht so schlecht gemacht.“
Der SV Darmstadt 98 hatte sich unter seiner Regentschaft von 2015 bis 2017 eher zufällig in die Bundesliga verirrt, als die Strukturen eigentlich noch amateurhaft waren. „Damals hatten wir den kleinsten Etat, das hässlichste Stadion“, erinnerte der 61-Jährige, „jetzt haben wir uns peu à peu nach vorne gearbeitet und Substanz aufgebaut“. Sein Weitblick wird derart geschätzt, dass Fritsch nicht zufällig in der AG Zukunftsszenarien der Deutschen Fußball-Liga (DFL) sitzt. Der Mann weiß, dass Tradition allein keine Tore schießt, deshalb hatte er früh darauf gedrungen, dass das marode Stadion endlich saniert wird. Nun ist das Schmuckkästchen mit seinen knapp 18 000 Plätzen punktgenau mit dem vierten Bundesliga-Aufstieg fertig.
Erstliga-Dreieck aus Frankfurt, Mainz und Darmstadt
Künftig weist die Erstliga-Landkarte ein Dreieck im wirtschaftsstarken Ballungsraum des Rhein-Main-Gebiets aus: Frankfurt, Mainz und Darmstadt sind mit der S-Bahn jeweils in weniger als einer Dreiviertelstunde zu erreichen. Darmstadt mit seinen 160 000 Einwohnern hat keine Einkaufsmeilen wie die Zeil in Frankfurt zu bieten, weil es den bodenständigen Charme dieser Region Südhessens konterkarieren würde.
Vielleicht passt deshalb Trainer Torsten Lieberknecht hier so gut hin. Den Einpeitscher 2021 zu verpflichten, erwies sich als Glücksfall: Lieberknechts größte Leistung war, dass seine Spieler immer den Glauben behielten. Trotz einer teilweise surreal anmutenden Verletztenliste. Er habe dafür „manchmal schauspielern“ müssen, verriet der gebürtige Pfälzer, der nach eigenem Bekunden „komplett leer“ war. Und doch vergaß er bei allen Emotionen nicht, dem Kollegen und Vorgänger Dirk Schuster zu danken, der mit dem „Wunder von Bielefeld“ vor neun Jahren die Grundlagen legte.
Lilien spucken erst große Töne, als der Aufstieg geschafft war
Herzenswärme ist dem 49-Jährigen extrem wichtig, sonst wäre er nicht so lange bei Eintracht Braunschweig geblieben, wo er vor zehn Jahren auf ähnliche Art und Weise in die Bundesliga einzog. „Ich hätte nie gedacht, dass ich nach Braunschweig noch einmal so etwas finde“, sagte der berührte Menschenfänger, der auf Understatement und Demut setzte. Große Töne haben die Lilien erst gespuckt, als es vollbracht war. Vorher nie. Und das unterscheidet sie zum Beispiel vom viel besser ausgestatteten Hamburger SV.
Keinen freut das vielleicht innerlich mehr als Carsten Wehlmann, ein gebürtiger Hamburger, der für den FC St. Pauli und den HSV als Torhüter gespielt hat, dann lange als Scout bei Holstein Kiel bereits die Nischen der Zweiten Liga durchforstete, ehe er im Februar 2019 in Darmstadt anheuerte. Der nüchterne Sportdirektor bildet eine weitere Schlüsselpersonalie. Kein Lautsprecher, aber ein Weichensteller. Der 50-Jährige ist gesegnet mit dem Näschen für die richtigen Personalentscheidungen. Torjäger Phillip Tietz beispielsweise kam vom Drittligisten SV Wehen Wiesbaden. Die Nummer neun war auch am 33. Spieltag derjenige, dem das Tor ins Glück gelang. Bereits mit dem blauen „Uffstiesch“-T-Shirt ausgestattet, erklärte Tietz den Coup so: „Wir sind ein geiler Haufen.“
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