Wegzeichen - Gedanken über das „Magnifikat“ der Maria

Ein Lobgesang als revolutionäres Adventslied

Von 
Markus Bisinger
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Maria begegnet ihrer ebenfalls schwangere Verwandten Elisabeth und stimmt ihr „Magnifikat“ an. Unser Bild entstand in der Kirche St. Bartholomäus in Kirschhausen. © Bissinger

Der Mensch erlebt immer wieder, wie klein er doch ist. Er fühlt sich abhängig, von anderen Mächten bestimmt und ohnmächtig, etwas gegen die gegebene Situation tun zu können. Gerade deshalb strebt er nach Größerem. Die einen schaffen es nach ganz oben, andere werden erniedrigt.

Auch die moderne Welt ist von Macht und Ohnmacht gekennzeichnet. Die einen bestimmen, die anderen müssen folgen, die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Nur wenige entscheiden über gesundheitliche, gesellschaftspolitische, wirtschaftliche oder auch ökologische Folgen. Es kommt zu Gewalt, Auseinandersetzungen und Zerstörungen. Zu Veränderungen scheint es nur zu kommen, wenn gerade die vermeintlich Schwachen und Kleinen erkennen: sie sind eigentlich nicht schwach und klein – und beginnen gegen die Ungerechtigkeit aufzustehen…

Ein Loblied in der Bibel verweist auf die befreiende Macht. Es ist Maria, die es singt, als sie ihrer Verwandten Elisabet begegnet, so berichtet es das Lukas-Evangelium. Das Loblied trägt den Namen „Magnifikat“. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bezeichnet das Eingangswort des Liedes, das Maria singt, als sie ihrer Verwandten Elisabet begegnet: „Hochpreiset meine Seele den Herrn … (magnificat anima mea dominum)“ (Lukas, Kapitel 1, Vers 46).

Die Aussagen des Lobliedes der Maria gelten – auch wenn es schon seit vielen Jahrhunderten in den Kirchen und Klöstern immer wieder gesungen wird und der Inhalt daher kaum noch reflektiert wird – auch heute als geradezu revolutionär. Mit ihrem Magnifikat kündigt Maria eine radikale Veränderung, die Befreiung aller Menschen an. Sie geschieht durch Gott. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“, heißt es im Lobgesang und „Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten“.

Es geht Maria wohl darum, eine andere Sichtweise der eigenen Rolle einzunehmen, auch die aktuellen Zusammenhänge in der Welt neu zu betrachten. Letztendlich fordert es ein Umdenken und Umkehren hin auf eine bessere Welt. Zu erkennen, ich bin eigentlich nicht ohnmächtig, mich kann niemand erniedrigen, setzt Potenzial frei.

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb kurz vor Weihnachten 1933: „Dieses Lied der Maria ist das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie auf Bildern sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht“. Sie konnte das Lied wohl nur singen, weil sie auch in ihrer schwierigen Zeit erkannte, dass Gottes befreiende Macht schon längst am Wirken ist.

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