Gedenktag - Initiativen erinnern an die Opfer der NS-Zeit / GEW-Kreisvorsitzender Giebel sieht alle Vertreter einer demokratischen und offenen Gesellschaft in der Pflicht

„Worte sind der Ausgangspunkt allen Übels“

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Am Stolperstein in der Bensheimer Fußgängerzone gedachten rund 50 Menschen der Opfer des Nationalsozialismus. © Funck

Bergstraße. Am 27. Januar 1945 hat die sowjetische Rote Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit. Seit über 20 Jahren ist das Datum ein gesetzlich verankerter Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Auf der ganzen Welt erinnerten am Montag Menschen an die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, an die Sinti und Roma, die Zwangsarbeiter, die homosexuellen und behinderten Menschen sowie an alle, die sich aus religiösen, politischen und humanen Gründen dem staatlichen Terror widersetzt haben.

In Bensheim lud die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Kreis Bergstraße erneut zu einer Kranzniederlegung am Stolperstein-Mahnmal vor der Alten Faktorei ein. Rund 50 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil. Das waren – trotz des Regens – ähnlich viele wie im vergangenen Jahr; darunter Vertreter von Initiativen und Gewerkschaften, Vereinen und politischen Parteien. Der Kreisvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Holger Giebel, rief die Teilnehmer zu einer Gedenkminute auf.

Die Mahnung „Nie wieder!“, die in den vergangenen Jahren bei solchen Veranstaltungen stets laut geworden war, wurde in ihrer Sinnhaftigkeit von der Realität überholt. Längst kommt es in Deutschland wieder zu antisemitistischen (judenfeindlichen) Übergriffen und rassistisch motivieren Taten. Es gibt Anschläge auf Synagogen und auf Politiker, die sich klar gegen Rechts positionieren.

„AfD spielt eine Vorreiterrolle“

All das wertet Giebel als dringenden Auftrag für alle Vertreter einer demokratischen und offenen Gesellschaft, um deutlich für Freiheit und Toleranz einzutreten. Es sei heute leider kein überparteilicher Konsens mehr, gegen jede Form von Faschismus und Nationalismus einzutreten. Stattdessen habe sich jenseits der gesellschaftlichen Realität ein Klima der Angst entwickelt, das von Rechtsextremen für deren Zwecke geschürt und ausgenutzt werde. Äußerungen, die früher einen Sturm der Empörung verursacht hätten, sorgten heute nur noch für einen „Sturm im Wasserglas“. Die AfD spiele bei dieser Grenzverschiebung an den rechten Rand eine Vorreiterrolle. Wer extreme Ansichten äußere und sich offen für die teilweise gewaltsame Verfolgung von Menschen ausspreche, der sei kein „besorgter Bürger“, sondern Teil einer Bewegung, die sich gegen jede Form einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stelle. „Worte sind Ausgangspunkt allen Übels“, so Holger Giebel in Bensheim.

Geistiger Klimawandel

Auch der Nationalsozialismus habe nicht mit Vernichtungslagern, sondern mit sprachlichen Äußerungen begonnen, die den Weg in diese Richtung ebneten. Auch Manfred Forell von der Initiative gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Kreis Bergstraße warnte vor einer Verrohung der Sprache als Wurzel des Übels. „Wir erleben gerade einen geistigen Klimawandel“, zeigte sich Forell besorgt.

Eine viel beachtete Rede hielt in Bensheim Pfarrer Arno Kreh, seit 2014 Dekan des Evangelischen Dekanats Bergstraße. Er betonte die Nähe von Christen und Juden, die durch eine gemeinsame Geschichte und durch den Glauben an ein und denselben Gott miteinander verbunden seien. „Wir sind Brüder und Schwestern und gehören zusammen.“ Antisemitismus könne daher niemals religiös oder christlich begründet werden. Kreh kritisierte, dass antijüdische Tendenzen und Vorfälle in den vergangenen Jahren in Deutschland zu oft verdrängt oder heruntergespielt worden seien. Nun gehe es darum, in Verantwortung und Solidarität gemeinsam zu leben und die Erinnerungskultur an die nächste Generation weiter zu geben.

Weitere Redner waren die DGB-Vertreter Hilde Kille (DGB-Frauen) und Günther Schmidl (Bensheim), Angelika Köster-Loßack vom Auerbacher Synagogenverein und Peter E. Kalb von der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger. Kalb sagte, dass nach dem Zivilisationsbruch des Naziregimes und einer nur zögerlichen und späten juristischen Aufarbeitung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs heute wieder rechte und rechtspopulistische Parolen in der gesellschaftlichen Mitte angekommen seien. „Und das unter dem Deckmantel einer vermeintlich bürgerlichen Partei.“ tr

Tag des Gedenkens

Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ist seit 1996 in Deutschland ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Termin. Im Jahr 2005 wurde von den Vereinten Nationen ein internationaler Gedenktag ausgerufen.

Bei der Bensheimer Veranstaltung wurde deutlich, dass sich jede Form von Gedenkkultur gegen den gewachsenen Druck vom rechten Rand behaupten muss. Alle Redner betonten den gesellschaftlichen Auftrag, sich klar gegen Antisemitismus, Rassenhass und jede Form von Ausgrenzung zu positionieren.

Holger Giebel sprach in Bensheim auch die Diskussion um das Grab des früheren Gewerkschaftsvorsitzenden und Stadtverordneten Jakob Kindinger an. Er bedauere, dass auf dem Friedhof-Mitte kein veritabler Ehrenplatz gefunden worden sei, um das Andenken an den Widerstandskämpfer aus Bensheim zu bewahren. In der Stadtverordnetenversammlung fand sich keine Mehrheit für ein Ehrengrab. Stattdessen wurde der Grabstein an die Friedhofsmauer verlegt.

Der aus Lautertal stammende Kindinger (1905 bis 1986) war als Gewerkschafter und Kommunist während der NS-Zeit insgesamt zehn Jahre lang in Haft, davon seit 1938 sieben Jahre im Konzentrationslager Buchenwald. Er bewahrte dort Mithäftlinge vor dem Tod und brachte durch sein mutiges Handeln sich selbst in Gefahr. tr

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