Intensivpflege für Kinder

Wenn Eltern nicht mehr können – und die Bärenfamilie in Heppenheim zum Zuhause wird

Wie viel Kraft kostet es, ein schwerkrankes Kind großzuziehen? Und wann ist der Moment gekommen, an dem Liebe bedeutet, Hilfe anzunehmen? Familien zwischen Hoffnung, Überforderung und der Frage, wie man sein Kind hält, wenn man es nicht retten kann.

Von 
bet
Lesedauer: 
Das Symbol der Bärenfamilie schaukelt in einer Hängematte im Flur. © WNOZ-Redaktion

Bergstraße. „Bis zur 28. Schwangerschaftswoche war alles ganz normal. Wir haben uns sehr auf das Baby gefreut und sämtliche Untersuchungen gemacht. Doch bei diesem Ultraschall kam heraus, dass etwas im Gehirn nicht stimmt.“ Mohammed Mokrabi, den alle nur Mo nennen, füttert seine Tochter Mila. Mila ist frisch gebadet und wird ungeduldig, wenn der Löffel mit dem pürierten Essen nicht schnell genug kommt.

Das neunjährige Mädchen mit den zwei langen Zöpfen und großen Augen kann sich weder bewegen noch eigenständig essen. „Noch kann ich sie aus der Badewanne heben“, lacht ihr Vater, „aber meiner Frau fällt es immer schwerer.“ Mindestens zweimal in der Woche fahren er und seine Frau den einstündigen Weg aus der Pfalz nach Heppenheim, um Mila zu besuchen – sie zu baden, mit ihr bei schönem Wetter um den nahe gelegenen Bruchsee zu gehen, sie zu füttern. Zu sehen, dass sie sich wohlfühlt und rundum gut versorgt ist. Dass sie ihn erkennt, glaubt er nicht, sagt Mo Mokrabi. Aber sie freut sich über jeden Kontakt. Was es heute Leckeres gibt, lässt sich schwer sagen, der Brei sieht nach püriertem Gemüse aus. „Zum Glück mag Mila alles“, erzählt ihr Vater. Sogar pürierten Döner hat das Mädchen mit großem Vergnügen verputzt.

Aicardi-Syndrom

  • Das Aicardi-Syndrom ist eine seltene, angeborene neurologische Entwicklungsstörung, die fast ausschließlich Mädchen betrifft und als unheilbar gilt. Es wird durch eine Kombination von drei Hauptmerkmalen charakterisiert: eine Agenesie des Corpus callosum (Fehlen des Balkens, der die Hirnhälften verbindet), chorioretinale Lakunen (typische Defekte im Augenhintergrund) und Spasmen.
  • Im März 2019 eröffnete die Bärenfamilie-Einrichtung in Heppenheim und versorgt seitdem beatmete Kinder und Jugendliche zur phasenweisen Entlastung oder auch für die Langzeitpflege. Mehr auf der Homepage der Bärenfamilie. Die Kosten für den Aufenthalt werden von Kranken- und Pflegekasse übernommen.

Bis zu Milas Geburt konnten die Ärzte nicht genau sagen, was dem Mädchen fehlt. Die Eltern gingen von Test zu Test – sicher war nur, dass der Mittelbalken im Gehirn fehlt. Nach dem geplanten Kaiserschnitt nahm Mo Mokrabi eine Tochter auf den Arm, und da hatte sie direkt ihren ersten epileptischen Anfall. Nach zehn Tagen kam dann die Diagnose: Mila leidet an einer äußerst seltenen neurologischen Störung, dem Aicardi-Syndrom.

Mila ist eines von 14 Kindern, die aktuell in der Bärenfamilie in Heppenheim leben. Die Einrichtung für Kinderintensivpflege eröffnet deutschlandweit Niederlassungen – von Berlin bis Ulm. Die schwerkranken Kinder und Jugendlichen kommen aus vielen Ländern. Sogar aus Dubai. Aber auch aus der Türkei, aus Afghanistan, Nigeria und dem Irak. Der kleine Junge aus dem Irak flüchtete mit seinen Eltern. Sie flohen über Land, mit Bussen, und dann mit dem Schlauchboot übers Meer. Sein Vater trug ihn die ganze Zeit auf dem Rücken. Einen Koffer mit Kleidung und einen mit Medikamenten nahmen die Eltern für ihn mit. Für sich selbst hatten sie nichts dabei.

Keines der Kinder kann selbständig stehen oder laufen. Mobile Stehtrainer sollen Muskeln, Lunge und Gleichgewicht trainieren. © WNOZ-Redaktion

Nicht immer sind angeborene, schwere Krankheiten und Behinderungen der Anlass für eine Intensivpflege. „Nicht alle unsere Kinder kommen so zur Welt“, erzählt Rabea Hartmann, Pflegedienstleiterin der Bärenfamilie. „Ein Stück Apfel, ein verschlucktes Spielzeug oder ein Ausflug zum Spielplatz, bei dem sich ein Kind beim Klettern unglücklich stranguliert, reicht oft aus, um ein kleines Gehirn ein Leben lang zu schädigen.“ Rabea Hartmann ist eine der 55 Mitarbeitenden in Heppenheim, die eine Eins-zu-drei-Betreuung der Kinder und Jugendlichen möglich machen. Zwei Lehrerinnen kommen dreimal in der Woche vorbei, um die Kinder zu unterrichten, die keine der umliegenden Förderschulen besuchen.

Lehrerin Anne Nicolay steht im Schulraum und färbt Salzteig ein. Eigentlich stand eine Lerneinheit zum Thema Farben auf dem Programm, aber irgendwie ist keines der Kinder rechtzeitig aus dem Bett gekommen.

So wie Emilia. Das dreijährige, blinde Mädchen sitzt müde in ihrem Rollstuhl, die Augen fest geschlossen. Auch ihre Lieblingsmusik – ein poppiger Disneysong über eine romantische Verlobung – kann sie nicht aufwecken. Emilia kann nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden, für sie ist es immer dunkel. Deshalb schläft sie tagsüber regelmäßig ein und ist dafür nachts putzmunter.

Pädagogin Tessa Kellermann nimmt sie liebevoll aus dem Rollstuhl. Ob vielleicht die Yogamatte und die Sonnenstrahlen aufmuntern? Nö. Emilia bleibt einfach liegen.

Der „Snoozle Raum“ ist mit Lichtspielen, Vibrationsmatten, Musikanlagen und Duftspendern ausgestattet. © WNOZ-Redaktion

Die zweijährige Aise wird vom Palliativteam in den Gemeinschaftsraum geschoben. In ihrer Nähe tragen alle Pflegerinnen eine Maske, um sie nicht zu gefährden. Die kleinen Füße stecken in Orthesen – wie bei allen Kindern hier – und die Beinchen, für den Rollstuhl nicht lang genug, ruhen auf einem Stapel Kinderbücher.

Der Salzteig wird für eine andere Gelegenheit aufgehoben – heute gibt es für die Lehrerin nichts zu tun. Ist es denn wirklich sinnvoll, Kinder zu unterrichten, die sich nicht bewegen und sich nicht äußern können?„Für jedes Kind in Deutschland besteht Schulpflicht“, stellt die Förderlehrerin Schule am Drachenfeld in Erbach fest. „Und auch wenn sie nie lesen oder schreiben lernen werden, so lernen sie doch Dinge zu fühlen und wahrzunehmen. Und sich vielleicht als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.“

Zudem gebe es Kinder, die seien kognitiv „voll da“, erklärt Marlena Lewandowska, die pädagogische Leitung der Bärenfamilie. Für diese Kinder sei es umso schlimmer, sich nicht äußern zu können und darauf angewiesen zu sein, dass jemand in ihrem Umfeld aus ihrer Mimik lesen kann, was sie brauchen und wollen.

„Unsere Kinder“, sagt die Pädagogin, wenn sie von den kleinen und größeren Kindern spricht. Und wenn dann eines von „unseren Kindern“ stirbt, sei das natürlich immer sehr schlimm – besonders, wenn es plötzlich passiert und sich niemand darauf vorbereiten konnte. So wie Geburtstage und Sommerfeste findet für jedes verstorbene Kind eine Trauerfeier statt – um Abschied zu nehmen. Mit Eltern, Geschwistern und Freunden. Wie in einer richtigen Familie.

So vielfältig wie die Krankheiten der Kinder sind auch die Geschichten – die Päckchen, die sie mitbringen. „Bevor sich Eltern für eine Pflegeeinrichtung entscheiden, liegt oft ein jahrelanger Leidensweg hinter ihnen“, erzählt Marlena Lewandowska. Oft entscheiden sich Eltern erst dann, wenn sie wirklich nicht mehr können, wenn die Familie dabei ist, zu zerbrechen.

Das Leitungsteam der Bärenfamilie: Rabea Hartmann, Claudia Neal und Marlena Lewandowska (von links). © Bärenfamilie

Auch Mila wohnte die ersten sechs Jahre zu Hause. Immer abwechselnd kümmerten sich die Eltern um das schwerbehinderte Kind, das phasenweise bis zu 70 Krampfanfälle am Tag hatte. Als die kleine Schwester Marie zur Welt kam, musste eine Entscheidung getroffen werden.„Das war die allerschwerste“, erzählt Mo leise und muss schlucken. „Das eigene Kind abzugeben …“ Aber es musste ja irgendwie weitergehen. Sonntags kommen sie oft zu dritt, damit Marie ihre ältere Schwester treffen kann. Und an allen Geburtstagen, an Weihnachten und Ostern wird Mila abgeholt – dann wird zu Hause gefeiert. Über ihre Prognose will sich ihr Vater keine Gedanken machen. „Ich wünsche ihr nur, dass sie nicht leiden muss.“

Nicht alle Eltern können und wollen das leisten, was Milas Familie für sie tut. Viele kommen selten oder gar nicht. Manche aus Überforderung, oft warten zu Hause noch vier, fünf Geschwisterkinder, andere aus Selbstschutz. Oder die räumliche Entfernung ist einfach zu weit. Viele Familien verzweifeln an diesen Belastungen.

Auch die Familie von Mila ist an ihrem Schicksal zumindest in Teilen zerbrochen. „Meine Mutter kommt damit überhaupt nicht zurecht“, erzählt Mo. „Sie besucht unsere Tochter nicht und will auch nicht, dass Mila sie besucht. Meine Mutter sucht immer noch nach den Schuldigen für Milas Behinderung – und gibt meiner Frau die Schuld.“ Kontakt haben Ehefrau und Mutter seitdem nicht mehr. Aber ab und zu fährt Mo mit Mila bei seiner Mutter vorbei. Dann kommt sie manchmal kurz ins Freie und schaut in das Auto, in dem Mila in ihrem Rollstuhl sitzt. bet

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger