Bergstraße. In der klassischen Farbdeutung ist Violett ein Symbol für die Zukunft, die Fantasie und die Träume. Vielleicht hatte Nancy Faeser bei der Wahl ihrer Garderobe aber gar keine hintersinnige Symbolik im Kopf, sondern einfach nur textile Ästhetik. Dennoch blickt die 52-Jährige momentan sehr hoffnungsvoll nach vorn: Am 8. Oktober tritt die Bundesinnenministerin für die SPD bei der Landtagswahl in Hessen als Spitzenkandidatin an. Am selben Tag wollen Josefine Koebe und Simone Reiners die beiden Bergsträßer Wahlkreise gewinnen. „Wir wollen eine frische Politik für Hessen und die Bergstraße“, betonte Koebe am Samstag in Bensheim.
Weit über einhundert Menschen waren ins Sekthaus Griesel & Compagnie gekommen, wo die SPD am Nachmittag ein umfangreiches Programm organisiert hatte. Neben viel Kulinarik, Musik und einem großen Familienangebot war Faesers – leicht verspäteter – Besuch für viele der Höhepunkt. Der als „Anpfiff“ angekündigte Wahlkampf-Auftakt wurde von zahlreichen Trillerpfeifen akustisch umrahmt, als der prominente Besuch an der Grieselstraße eintraf. „Der CDU würde Opposition guttun“, wartete die Bundesministerin dann auch nicht lange mit den ersten Spitzen Richtung Landesregierung. In Wiesbaden herrsche Stillstand, Schwarz-Grün komme bei vielen elementaren Themen nicht voran. Zum Beispiel bei Gesundheit, Bildung und Arbeit. Es sei skandalös, dass in Hessen immer noch der Geldbeutel der Eltern darüber entscheidet, ob der Nachwuchs in der Schule erfolgreich ist, sagte die Bundesinnenministerin, die derzeit auch oberste Wahlkämpferin in Hessen ist. „Wir brauchen mehr Lehrer und Erzieher.“
Zwei Milliarden für Transformation
Durch eine priorisierte Bildung und passgenaue Talentförderung könne man Hessen wieder zu einem „Bildungsland Nummer eins“ machen, so die Juristin, die in Bensheim auch die Forderung nach einem „Transformationsfonds“ kommentierte. Damit will die SPD den Industrie- und Wirtschaftsstandort Hessen stärken. Die Idee hatte Nancy Faeser in ihrer Eigenschaft als Parteivorsitzende der SPD zum ersten Mal Ende 2021 gemeinsam mit dem Gewerkschaftsbund präsentiert. In den kommenden zehn Jahren sollen insgesamt zwei Milliarden Euro (200 Millionen im Jahr) bereitgestellt werden, um die Prozesse der Transformation mitzugestalten und zu unterstützen. Aus dem Fonds sollen unter anderem Qualifizierungsmaßnahmen, Investitionen in Standortfaktoren und Innovationen in Zukunftstechnologien finanziert werden. Die hessische Wirtschaft müsse schnell auf erneuerbare Energien umgestellt und für die Digitalisierung des Arbeitslebens vorbereitet werden, sagte sie. Nur so könne man dauerhaft wertvolle Arbeitsplätze erhalten.
Eine Frage der Menschlichkeit
Auch ein für sie besonders brisantes Thema sprach sie in Bensheim kurz an: Trotz der Kritik aus vielen Kommunen, die über eine Belastung durch die Aufnahme von Geflüchteten klagen, will die Bundesinnenministerin von einer Obergrenze bei der Aufnahme nichts wissen. Dies sei eine Frage der Menschlichkeit, so Faeser.
Für die Städte und Gemeinden sei die aktuelle Situation keine leichte Aufgabe, das sei ihr wohl bewusst. Doch die Kommunen sollten auch sehen, dass der Bund aktiv handele. Es gehe hier auch um das Ordnen und Steuern von Migration. Als Beispiel nannte sie die Stadt Kelkheim im Taunus, wo man Menschen aus Krisengebieten dezentral unterbringe. Das funktioniere gut. „Man muss auch das Positive sehen und nicht nur die Probleme.“ Sie begrüßte die Ergebnisse des Bund-Länder-Treffens zur Flüchtlingspolitik und verwies auf eine dauerhafte Entlastung der besonders stark geforderten Kommunen.
In Hessen gehe es im Oktober um die Wahl „zwischen Stillstand oder Fortschritt“: Seit fast 25 Jahren wird das Land von einem Ministerpräsidenten der CDU regiert. Faeser wäre die erste Frau an der Spitze. Josefine Koebe (35) und Simone Reiners (29) lobte sie als junge und kompetente Kandidatinnen, die für eine neue, unverbrauchte Politik stehen. Koebe, die für den Wahlkreis Bergstraße-Ost antritt, strebt die Nachfolge der langjährigen Landtagsabgeordneten Karin Hartmann (Grasellenbach) an. Nancy Faeser würdigte Hartmann als „Starke Stimme der Bergstraße in Wiesbaden“.
In Bensheim begrüßte sie auch Bürgermeisterin Christine Klein und die ehemalige Fraktionsvorsitzende der SPD Bergstraße Katrin Hechler, seit 2014 Kreisbeigeordnete im Hochtaunuskreis. Der Unterbezirksvorsitzende Marius Schmidt äußerte sich zuversichtlich über einen politischen Machtwechsel in der Landeshauptstadt.
„Wir stehen für eine neue Generation“, so Simone Reiners. Die Kreistagspolitikerin und Stadtverordnete aus Heppenheim betonte ihre Nähe zu den Menschen vor Ort. Städte und Gemeinden müssten ausreichend Spielräume haben, um mehr zu leisten als nur die Grundversorgung. Für eine gute Daseinsvorsorge brauche es stabile Finanzmittel, so Reiners, die bei der Viernheimer Stadtverwaltung arbeitet. Auch Josefine Koebe sieht den richtigen Moment für den Sprung in die Landespolitik gekommen: „Ich habe das Gefühl, ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort!“ Mit neuen Ideen und einer „frischen Kommunikation“ wolle sie politische Themen bis zu den Menschen an die Haustür bringen und so „Lust auf Mitreden“ machen. Man dürfe sich nicht mit Missständen abfinden, sondern müsse kreativ Lösungen finden, so die ehrenamtliche Bensheimer Stadträtin und promovierte Volkswirtschaftlerin. Beispielhaft nannte sie die Themen Wohnraummangel, Bildungsgerechtigkeit und Migration: „Ich will mich auch nicht gewöhnen an die Selbstdarstellung der Kreisspitze im Kontext der Flüchtlingsfrage.“ Man dürfe nicht nur über die Kosten und Probleme sprechen, sondern müsse auch erkennen, was diese Menschen der Gesellschaft geben könnten, so Koebe.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Miriam Anna Umhauer. Musikalisch begleitet wurde das Hoffest von „Das Mädchen mit dem Kontrabass.“ Im Anschluss an die Reden fand eine Versteigerung zugunsten des Vereins Sonnenkinder Elterninitiative Handicap e.V. statt. Die andere Hälfte des Erlöses fließt ins Landtagswahlkampfbudget der Bergsträßer SPD.
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