Bergstraße. Anne Meier (Name von der Redaktion geändert) sucht für ihren Sohn Paul (Name ebenfalls geändert) einen Kinderpsychiater. Der 12-Jährige soll aufgrund diverser chronischer Erkrankungen für mehrere Wochen in eine stationäre Reha. Diese wird allerdings nur ohne Begleitperson genehmigt. Paul leidet aufgrund seiner Erkrankungen unter starken Trennungs- und Verlustängsten. Deshalb muss seine Mutter ihn begleiten.
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV), die die Reha übernimmt, fordert von der Mutter nun ein entsprechendes Gutachten eines Kinderpsychiaters. Doch: Anne Meier findet niemanden, der ein solches Gutachten erstellt. Sie erhält nur Absagen. Sie sei kein dringender Notfall, lautet die Begründung. Womit die Praxen zwar richtig liegen, aber dennoch hat Anne Meier Zeitdruck. In ihrer Not wandte sie sich an Barbara Bastian-Becker. Sie ist zwar keine Kinderpsychiaterin, sie ist aber Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Anne Meier versucht nun herauszufinden, ob die DRV ein Attest von ihr akzeptieren würde. Das ist aktuell noch offen - die Verzweiflung der Familie ist groß.
Täglich erreichen die Praxis im Schnitt drei Anfragen
Barbara Bastian-Becker hat seit 1997 eine eigene Praxis in Bensheim. Im Schnitt bekommt sie drei Anfragen für einen Behandlungsplatz - pro Tag: „Jede Bitte um einen Behandlungsplatz ist ernst gemeint, dringlich und für mich als Fachkraft nachvollziehbar. Keine Nachfrage ist lapidar oder vernachlässigbar. Immer wieder wird auch von Suizidgefahr und schwerwiegenden Depressionen, von Schulangst und Selbstverletzungen gesprochen.“ Und die Psychotherapeutin kann leider nicht helfen: „Ich höre mir am Telefon diese dringlichen und dramatischen Situationen an – und muss sagen, dass ich das jeweilige Kind/Jugendlichen lediglich auf meine Warteliste nehmen kann und ich, wenn ein Behandlungsplatz zur Verfügung steht, zurückrufe. Die Frage, wie lange denn die Wartezeit ist, beantworte ich mit einer Lüge: Ich sage, ein halbes Jahr; in Wirklichkeit ist die Wartezeit 1,5 bis 2 Jahre.“
Sie könne die anrufenden Eltern auch nirgend wohin weiterleiten. Keiner ihrer Kollegen habe Plätze frei. Die hiesige Ambulanz habe eine Wartezeit von mehreren Monaten und mache in der Hauptsache Diagnostik und keine Psychotherapie. Bei dem SPZ in Darmstadt bestehe, wie sie aus Erfahrung berichtet, ebenfalls eine Wartezeit von 1,5 Jahren und dort werde auch nur die Diagnostik durchgeführt. Die Wartelisten seien geschlossen. Das neurologische Zentrum Mainz nehme überhaupt nicht mehr auf: „Einer Mutter wurde gesagt, sie soll sich an die für sie zuständige Klinik wenden, obwohl eine stationäre Aufnahme gar nicht in Frage kam.“ Die Kinder- und Jugendpsychiatrie Riedstadt habe ebenfalls mehrere Monate Wartezeit.
Der Stress kann auch die Symptome der Kinder verstärken
Es müsse auch zwischen einem Termin zur Abklärung und einem Behandlungsplatz unterschieden werden. Das kann eine schmerzliche Erfahrung sein, weiß Bastian-Becker: „Manche Eltern haben einen Termin bei mir von der Terminvergabestelle der KV Hessen bekommen. Sie schöpfen Hoffnung und rufen mich in der festen Annahme an, nun endlich einen Behandlungsplatz gefunden zu haben. Sage ich ihnen, dass dieser Termin lediglich zur Abklärung dient und keine Behandlung meint, sind sie tief enttäuscht, oft auch verzweifelt und möchten den Termin nicht wahrnehmen, sondern auf meine Liste geschrieben werden.“ Die Psychotherapeutin kann den Frust nachvollziehen: „Weshalb sollen sie mir in einer Sitzung von dem Leid ihres Kindes erzählen, wenn ich ihnen am Schluss des Gespräches sagen muss, dass ich jetzt lediglich den Namen ihres Kindes aufschreibe und mich in 1,5 bis 2 Jahren wieder melde? Sowohl für sie als auch für mich wäre dies eine zutiefst unwürdige und sich gegenseitig verletzende Situation. Und dies bei Menschen, die aufgrund der besorgniserregenden Symptomatik ihres Kindes eh schon verunsichert und verletzbar sind.“ Und: Es gibt auch Eltern, für die es bereits ein großer Schritt ist, sich überhaupt für eine Therapie zu entscheiden und anzurufen. Nicht alle seien dazu imstande, den Kraftakt anzutreten, einen Platz in der Umgebung zu suchen - und auch den Frust auszuhalten, nur Absagen zu erhalten. Es gibt Fälle, in denen das familiäre Umfeld selbst Teil des Problem des Kindes oder des Jugendlichen sei. Dieser ganze Stress könne wiederum auch die Symptomatik bei den jungen Patienten verstärken.
Der offene Brief hat wenig Resonanz bekommen
Es bleibt der Therapeutin nichts anderes übrig als festzustellen, „dass die psychotherapeutische Versorgung für Kinder und Jugendliche zur Zeit nicht mehr existiert. Es ist eine Situation, die alle, die mit Kindern und Jugendlichen beruflich zu tun haben, zutiefst beunruhigt.“ Lebensschicksale würden früh negativ festgelegt. Sie nennt als Beispiel, dass bei pathogener Schulangst Abschlüsse nicht gemacht werden könnten. Die späteren Folgeschäden seien immens und würden mehr kosten als eine zeitlich notwendig begonnene Behandlung.
Barbara Bastian-Becker möchte aber nach Jahren der defizitären Versorgung im psychotherapeutischen Bereich aufhören zu klagen, sie versucht etwas zu verändern. Bereits im März schrieb sie - auch im Namen von hiesigen Kinderärzten, Erziehern der Kindertagesstätten, dem Leiter des Jugendamts Kai Kuhnert, Lehrern der Schulen, von Sozialpädagogen der betreuten Wohngruppen, der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie Heppenheim und der Tagesklinik, von Kollegen, Erziehungsberatungsstellen und des „Bündnis für Demokratie und Zivilcourage“ - einen Brief an den Landrat und die Bürgermeister des Kreises. Bis vor kurzem erhielt sie keine inhaltliche Antwort - auch das Büro von der hessischen Familienministerin Diana Stolz habe ihr, wie Bastian-Becker berichtet, lediglich den Eingang des Schreibens bestätigt.
Das löst bei der Psychotherapeutin großer Frust und Empörung aus, dass die Menschen in Not alleine gelassen werden: „Es bereitet mir große Sorge, dass die höheren Instanzen nicht zuhören, nichts unternehmen und die Menschen mit ihren Problemen und Ängsten alleine lassen. Das ist auch kein gutes Zeichen für unsere Demokratie.“ Und sie ergänzt, dass die Versorgungslage bei den Therapeuten für Erwachsene nicht unbedingt besser sei.
Nachdem der BA beim Kreis nachgefragt hat, warum Barbara Bastian-Becker bislang keine Antwort erhielt, gab es eine erste Reaktion. In einer Antwort an die Redaktion hieß es: „Die ambulante kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung obliegt der Kassenärztlichen Vereinigung, die Aufsicht über diese hat das Land. Die Bedarfsplanung wiederum verantwortet der Bund.“ Man mahne bereits seit vielen Jahren die sehr problematische Situation im Rahmen der kinder- und jugendlichen-psychotherapeutischen Versorgung, aber auch in der Versorgung psychisch erkrankter Erwachsener, bei den zuständigen Fachbehörden immer wieder an. Und weiter: „Neben den Problemen für die Betroffenen müssen auch wir bei unserer täglichen Arbeit erkennen, dass sich die Minderversorgung inzwischen spürbar nachteilig auch auf die Arbeit in den Fachbereichen Jugendhilfe, Kinder- und Jugendärztlicher Dienst sowie Soziale Dienste auswirkt und immer mehr versucht werden muss, die fehlenden Strukturen einer flächendeckenden psychosozialen Versorgung zu kompensieren.“
Der Kreis betont in der Mitteilung aber ebenfalls, dass sich die fehlende ausreichende Versorgung jedoch nicht allein im Kreis Bergstraße so darstelle, sondern, zwar mit regionalen Unterschieden, aber im Ergebnis flächendeckend in ganz Hessen. Und sei diese Problematik auch immer wieder Thema im Sozialausschuss des Hessischen Landkreistages, dem die Erste Kreisbeigeordnete Angelika Beckenbach angehöre. Auch von dort würden entsprechende Forderungen an Bund, Land und Kassen formuliert, zur dringenden Verbesserung der Versorgungssituation beizutragen. Ergänzend dazu sei von der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. ein Runder Tisch initiiert worden, um alle relevanten Akteure in Hessen an einen Tisch zu holen, um gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.
Eine ähnliche Antwort erreichte dann auch Barbara Bastian-Becker von der Ersten Kreisbeigeordneten Angelika Beckenbach. Sie entschuldigte die verspätete Antwort mit einem verwaltungsinternen Versäumnis.
Die Psychotherapeutin hat allerdings noch nie von einem solchen - in der Mitteilung angesprochenen - Runden Tisch gehört und stellt die Frage, warum so eine Maßnahme nicht kommuniziert werde und wer überhaupt daran beteiligt sei. Sie wünscht sich einen genauen Plan, wie man das Problem lösen möchte: „Ich dachte, ich hätte die Not der betroffenen Familien und Patienten deutlich genug beschrieben, als dass weiter im Vagen und Unkonkreten geblieben wird.“
Andere Bundesländer werden bereits aktiv
Bastian-Beckar berichtet, dass es immer wieder bundesweit oder auch in anderen Bundesländern Bestrebungen gebe, die Lage zu verbessern. In Rheinland-Pfalz habe die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz im Oktober 2024 eine zeitnahe Überarbeitung der entsprechenden Bedarfsplanung gefordert. Laut KV fehlen in Rheinland-Pfalz der in der ambulanten Versorgung rund 200 psychotherapeutische Sitze.
Das Landessozialgericht in Berlin und Brandenburg ordnete Anfang Dezember 2024 eine neue Bedarfsprüfung Psychotherapie an.
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