Bergstraße. Frau Girard, Herr Steier-Bertz, im Juni hat die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht unter anderem vor neuen hochwirksamen synthetischen Substanzen gewarnt. Außerdem führten neue Drogenmischungen und sich ändernde Konsummuster zu neuen Risiken. Wie schätzen Sie die Situation im südhessischen Ried und in Viernheim ein?
Nikita Girard: Die Verfügbarkeit unterschiedlicher rauscherzeugender Substanzen ist natürlich gegeben. Schwierig ist aber die dauerhafte und fortlaufende Beobachtung der Szene. Aufschluss könnte etwa das sogenannte Drug-Checking geben ...
... beim sogenannten Drug- Checking können auf dem Schwarzmarkt gekaufte Drogen auf Reinheit getestet werden. Das soll helfen, gesundheitliche Probleme zu vermeiden.
Girard: Ja, aber in Deutschland ist das noch keine gängige Praxis, die rechtlichen Grundlagen sind bisher nicht gegeben.
Adrian Steier-Bertz: Über die psychoaktiven Substanzen, die bei uns in Umlauf sind, können wir also nur mutmaßen. Wir sind darauf angewiesen, dass uns die Klienten mitteilen, wenn sie etwa bei einer bestimmten Substanz eine auffällige Wirkung festgestellt haben. In den Beratungen kommt das eher selten vor. Die Leute kommen in der Regel nicht wegen synthetischer Drogen zu uns. Vielmehr geht es um Probleme, die sie beispielsweise mit Opiaten, mit Alkohol oder Kokain haben.
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Sie befürworten das sogenannte Drug-Checking?
Girard: Aus unserer Sicht wäre es für Menschen, die bereits die Entscheidung getroffen haben, zu konsumieren, eine wichtige Möglichkeit. Ein Test, etwa beim „Tanz der Bässe“ in Lampertheim würde die Sicherheit erhöhen, da lebensgefährliche Verunreinigungen aufgedeckt werden können. Schon alleine deshalb wäre ein Drogencheck wichtig. Andere in Europa sind weiter als wir. Beispielsweise Schweizer und Spanier.
Laut Gesetz ist seit April grundsätzlich der Besitz und Eigenanbau begrenzter Mengen an Cannabis für Volljährige erlaubt. Wie ist Ihr erster Eindruck?
Steier-Bertz: Wir spüren großen Bedarf nach Informationen. Nach unserem Eindruck sind zahlreiche Eltern und Lehrkräfte aktuell verunsichert. Insofern ist es erst einmal ein gutes Zeichen, dass sich verantwortungsvolle Erwachsene über das Thema informieren. Sie wollen wissen, wie sie damit umgehen können.
Aber?
Girard: Das Gesetz wurde aus unserer Sicht mit zu heißer Nadel gestrickt. Die nötigen Vorkehrungen konnten in manchen Bereichen nicht rechtzeitig getroffen werden. So wurde der Umgang mit dem Jugendschutz beispielsweise zwar vernehmbar diskutiert. Aber diesen Aspekt sehen wir nach der Gesetzesänderung bisher nur bedingt geklärt.
Inwiefern?
Girard: Konsum von Cannabis im Beisein von Kindern und Jugendlichen ist eindeutig verboten. Daher ist es keine gute Idee, einen Joint in der Nähe von Schulen oder Kindergärten anzuzünden. Das geschieht dennoch. Auch erleben wir täglich, dass Cannabis in Schwimmbädern oder auf Festen konsumiert wird. Das sehen die Kinder natürlich auch.
Es hakt an der Umsetzung?
Girard: Ja. Weil unklar ist, wer sich um die Einhaltung dieser Regeln kümmern muss. Die Ordnungsämter in den Kommunen sind ohnehin schon überlastet. Somit leidet aus unserer Sicht der Schutz von Kindern. Auch die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Jugendlichen umgehen, die Cannabis konsumieren, ist zurzeit offen. Bis April – also vor der Teillegalisierung – war es die Regel, dass Jugendliche, die illegal Cannabis konsumiert hatten, von Gerichten Auflagen bekommen haben. Sie mussten beispielsweise drei Beratungsgespräche mit uns führen. Das ist weggefallen, da der Konsum von Cannabis kein Strafdelikt mehr ist.
Steier-Bertz: Dabei wäre es wichtig, Jugendliche über Cannabis aufzuklären. Schließlich gibt es heute hochpotente Sorten, die aufgrund des hohen THC-Anteils auch psychische Folgen für Konsumenten haben können. Die Verbreitung soll zwar laut Cannabisgesetz eingeschränkt werden. Wie das in der Praxis gelingen soll, darauf sind wir sehr gespannt. Der Markt ist jetzt relativ offen. Es ist eigentlich alles verfügbar, was es in diesem Bereich gibt.
Wie sieht es mit Opioiden im Kreis Bergstraße aus? Manche Experten fürchten, dass neben Heroin nun noch tödlichere Mittel auf den Markt drängen könnten. Genannt wird etwa das Schmerzmittel Fentanyl. Das mache extrem süchtig und wirke auch wesentlich stärker als das Opiat Heroin.
Girard: Zumindest beim Heroin sehen wir bisher keine signifikante Veränderung von 2022 zu 2023. Insgesamt handelt es sich um etwa 80 Klienten, die wir beraten und unterstützen. Dabei geht es beispielsweise um das Thema Substitution, also den Ersatz von Heroin oder anderer Opiate mit einem anderen Stoff. Der Anteil an den gesamten Beratungen liegt hier bei etwa 20 Prozent. Aber das sind natürlich auch nur die Menschen, mit denen wir bei Prisma zu tun haben. Wie hoch die Dunkelziffer ist, bleibt unklar.
Steier-Bertz: Klar ist aber, dass es auch Personen gibt, die starke Schmerzmittel wie Fentanyl, Tilidin oder Oxycodon zu sich nehmen. Und ja, es gibt somit auch in unserer Region Menschen, die von solchen Substanzen abhängig sind. Auch wenn deren Zahl noch überschaubar ist, es besteht ein großes Risiko in diesem Bereich. Wir stellen immer wieder fest, dass Medikamente oftmals recht unbedarft eingenommen werden. Das ist generell ein Problem. Wenn es sich aber um Opioide handelt, ist größte Vorsicht geboten.
Schon Heroin ist eine Droge, die abhängigen Menschen in der Regel schwer zu schaffen macht. Das erleben wir bereits seit Jahrzehnten. Wie schätzen Sie die Situation in der Region aktuell ein?
Girard: Für Menschen die etwa Heroin konsumieren, ist die Versorgungslage im Kreis Bergstraße sehr schwierig. Vor allem mit Blick auf die Substitution. Die meisten dieser Ersatzstoffe müssen einmal pro Tag eingenommen und ärztlich verordnet werden. Anders als in großen Städten gibt es in unserer Region aktuell keinen uns bekannten niedergelassenen Arzt, bei dem Abhängige ihren Ersatzstoff abholen können. Das ist ein großes Problem.
Steier-Bertz: Die Vitos Heppenheim bietet dafür nur eine geringe Anzahl an Plätzen. Das reicht natürlich vorne und hinten nicht. Klienten aus dem Kreis, die sich vom Heroin lossagen wollen, müssen täglich weite Wege gehen, die etwa nach Mannheim, Worms oder auch nach Darmstadt führen.
Das klingt schwierig.
Girard: Das ist es. Dabei ist es ja grundsätzlich eine positive Sache, wenn Leute diesen Weg beschreiten. Ein Ersatzstoff wie Methadon soll eigentlich dazu beitragen, dass suchtkranke Menschen sich wieder stärker um das eigene Leben kümmern und den Druck der Drogenbeschaffung ablegen können. Dieser Weg erfordert Ausdauer und ist eine echte Herausforderung. Und die beginnt im Grunde schon mit dem täglichen Arztbesuch. Kommt noch eine Veränderung hinzu, nehmen Sie beispielsweise die aktuelle Sanierung der Riedbahn, wird es schwierig.
Diese wichtige Verkehrsverbindung fällt bis Ende des Jahres aus. Aber es gibt Ersatzbusse ....
Girard: Das ist richtig. Aber für jemanden, dessen Gedankenwelt um die Abhängigkeit kreist, ist das eine besondere Situation. Verlängerte Reisezeiten und neue Fahrpläne können schon für gesunde Menschen belastend sein.
Steier-Bertz: Abgesehen davon, dass der Öffentliche Nahverkehr zurzeit Schwierigkeiten bereitet, stellen sich noch andere Probleme ein. Wenn ein Lampertheimer beispielsweise nach Mannheim zum Substitutionsarzt fährt, kommt er schnell mit anderen Konsumierenden zusammen, die sich dort aufhalten. Das wiederum kann sich negativ auf dessen Standfestigkeit auswirken. Alkohol und andere Drogen werden bei solchen Gelegenheiten durchaus konsumiert. Dann gibt es auch noch Abhängige, die auf eigene Faust versuchen, den Stoff auszudosieren, also ihre Sucht selbst zu überwinden. Damit steigt das Risiko eines Rückfalls signifikant. Es gibt Leute, die in einer solchen Situation zu synthetischen Stoffen wie etwa Fentanyl greifen, um Entzugserscheinungen zu überwinden. Dabei ist der Einsatz solcher Opioide hochproblematisch. Insofern wäre es sinnvoll, wenn wir Menschen aus unserer Region vor Ort versorgen könnten.
Wieso herrscht eine solche Unterversorgung bei der Substitution im Kreis? Im Grunde kann doch jeder Hausarzt Ersatzstoffe ausgeben.
Girard: Wir haben gemeinsam mit dem Kreis-Gesundheitsamt für eine bessere Versorgung geworben. Bisher ohne Erfolg. Hier gibt es leider noch Berührungsängste und Vorbehalte. Für viele Ärzte stellt der Umgang mit Abhängigen offenbar eine Hürde dar. Es gibt aber auch Menschen, die aus Scham und Angst vor Verurteilung nicht mit dem Hausarzt über die Abhängigkeit sprechen.
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