Bergstraße. Es war ein heikles Experiment, was ein tschechisches Filmteam vor zwei Jahren wagte: Für drei volljährige Schauspielerinnen, die jünger aussahen und glaubwürdig 12-Jährige spielen konnten, wurden gefälschte Profile von 12-jährigen Mädchen in beliebten sozialen Netzwerken erstellt. Das Produktionsteam stattete jedes vermeintliche Mädchen mit einem diesem Alter angemessenen Kinderzimmer aus, in dem auch unsichtbare Monitore, Kameras und Aufnahmegeräte platziert waren. Die Schauspielerinnen sollten niemanden von sich aus ansprechen, keine aufreizenden Fotos zeigen und einfach nur abwarten.
Schockiert stellte das Team fest, dass schon innerhalb von wenigen Minuten nach Erstellung der Profile die ersten Kontaktanfragen eingingen. Die Schauspielerinnen waren angewiesen worden, in den Unterhaltungen ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sie erst 12 Jahre alt seien. Keiner der meist älteren Männer ließ sich davon abschrecken, viele masturbierten unvermittelt vor der Kamera – im Film werden diese Szenen verpixelt wiedergegeben, in der Schulversion stark gekürzt.
Gefälschte Nacktaufnahmen
In einem nächsten Schritt gaben die Darstellerinnen auf Aufforderung der Chatpartner auch (gefälschte) Nacktaufnahmen weiter und lieferten sich damit unter anderem der Erpressung aus: Weil ein Mädchen sich weigerte, ihre Brüste im Chat zu zeigen, bestrafte der Täter es mit der Veröffentlichung ihres Fotos im Netz.
Schließlich erklärten sich die Schauspielerinnen auch zu persönlichen Treffen mit den Männern bereit. Bei einer Tasse Kakao sprachen die Männer offen über ihre sexuellen Forderungen – obwohl sie genau wussten, dass sie es mit Kindern zu tun hatten. Die Dreharbeiten wurden von einem auf Cyberkriminalität spezialisierten Psychologen und Anwalt begleitet, die Treffen der Schauspielerinnen mit den Tätern fanden unter der Aufsicht von Sicherheitsleuten statt.
Intensive Aufklärung wichtig
Ziel des Filmteams war es zu zeigen, dass es nicht nur härterer Strafen, sondern auch der intensiven Aufklärung von Kindern und Jugendlichen bedarf, um Cybergrooming nachhaltig zu bekämpfen. Der durch seine Unmittelbarkeit schmerzhafte Film soll potenzielle Opfer und deren Eltern ebenso wie mögliche Zeugen – auch unter den Gleichaltrigen – für die Thematik sensibilisieren.
Die Schulversion dieses im vergangenen Jahr unter dem Titel „Gefangen im Netz“ in die deutschen Kinos gekommenen Films wurde am Mittwochmorgen im Luxor-Kino gezeigt. Die Vorführung war Teil der Kampagne „Brich dein Schweigen – hinter jedem Missbrauch steckt ein Gesicht“, die vom Verein Bürger und Polizei Bergstraße, den Rotary Clubs der Region und dem Polizeipräsidium Südhessen gemeinsam im Frühjahr gestartet wurde. Zu dem Aktionspaket gehören unter anderem pädagogische Fortbildungen, Informationsveranstaltungen für Eltern, Schutzkonzepte für Vereine und eine an Arztpraxen adressierte Mailingaktion, mit der Bitte um das Aushängen von Plakaten, die auf Hilfs- und Beratungsangebote aufmerksam machen.
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 Hilfe in der ...
In Bensheim hatten rund 300 Schüler der weiterführenden Schulen ab 12 Jahren Gelegenheit, „Gefangen im Netz“ zu sehen. Angemeldet hatten sie sich im Klassenverband gemeinsam mit den Lehrkräften, die das Thema auch im Unterricht vorbereitet hatten. Kriminalhauptkommissar Michael Rühl von der Fachberatung Cybercrime der Polizei Südhessen moderierte den Vormittag und begrüßte im Zuschauerraum auch Landrat Christian Engelhardt und den Vizepräsidenten des Polizeipräsidiums Südhessen Rudi Heimann.
„Digitalisierung ist mir wichtig und ich bin selbst viel in den sozialen Netzwerken unterwegs“, erklärte Landrat Christian Engelhardt bei seiner Begrüßung der Schüler. Das Internet biete tolle Chancen, aber eben auch Risiken, die man im Blick haben müsse. Ob ein Chatpartner wirklich erst 16 oder doch schon viel älter sei, könne man zum Beispiel nie wissen. Er wies auf das nachahmenswerte Konzept der „Netzhelden“ in Bürstadt hin: Schülerinnen und Schüler der Erich-Kästner-Schule beantworten dort Fragen ihrer Mitschüler im Internet und klären über und Probleme wie Cybermobbing oder das „Recht am eigenen Bild“ auf.
„Wenn ihr den Film angeschaut habt, habt ihr selbst Expertenwissen erworben, das ihr weitergeben könnt“, rief der Landrat zur Nachahmung auf. „Die Verantwortung liegt bei euch“, verstärkte Rudi Heimann diesen Aspekt und verglich die Situation im Internet mit dem Straßenverkehr: Der sei gefährlich, aber jedermann wisse, dass man aufpassen müsse. Deshalb sei Aufklärung auch in Hinblick auf den Missbrauch im Internet wichtig. Es gebe aber noch einen zweiten sehr wichtigen Punkt: Den Schutz durch Menschen, denen man vertraue und denen man alles erzählen könne. Und wenn das nicht die eigenen Eltern seien: „Sucht euch jemanden!
“.
Im Anschluss an den Film wurden Fragen der Schüler beantwortet. Auf dem Podium vertreten waren die Erziehungsberatung Bensheim, ProFamilia, das Staatliche Schulamt, die Kriminalpolizei Südhessen sowie die Medienschutzbeauftragte der Geschwister-Scholl-Schule.
Mädchen sind viel häufiger Opfer
Warum an dem Experiment keine Jungen beteiligt gewesen seien, lautete eine Frage. Weil diese laut Statistik viel seltener Opfer seien: Im Jahr 2021 seien von knapp 14.000 Opfern etwa 150 männlich gewesen. Eine Frage nach dem Strafmaß für sexuellen Missbrauch im Netz: unter anderem für Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte bis zu 10 Jahre Freiheitsstrafe. „Gibt es Konsequenzen für das Opfer, wenn es Nacktfotos verschickt?“ „Über 14-jährige minderjährige Opfer könnten sich damit des Verbreitens jugendpornografischer Schriften strafbar gemacht haben.“
Eine weitere möglicherweise überraschende Information in diesem Zusammenhang war zu erfahren: Zahlreicher als professionelle oder semiprofessionelle Täter sind die sogenannten „Schulhof“-Täter, die sich oft der strafrechtlichen Relevanz ihrer Taten gar nicht bewusst sind.
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