Missbrauchsskandal - Mit dem Grimme-Preis ausgezeichneter Film "Geschlossene Gesellschaft" und anschließende Podiumsdiskussion im Saalbau-Kino

OSO-Film in Heppenheim vor fast leeren Rängen

Lesedauer: 

Podiumsdiskussion im Saalbau-Kino mit (von links) Joachim Kühn, Luzia Schmid, Regina Schilling, Adrian Koerfer und Brigitte Tilmann.

© Neu

Heppenheim/Bergstraße. "Sehr erschüttert" zeigte sich die ehemalige Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt Brigitte Tillmann, dass "nur wenige hundert Meter von der Schule entfernt lediglich sieben oder acht Menschen, die nicht mit dem Opferverein Glasbrechen oder mit dem direkten Geschehen zu tun haben, den Film sehen wollten." In Frankfurt und anderen Städten waren die Kinosäle voll.

Der Film heißt "Geschlossene Gesellschaft" und thematisiert den jahrelangen Missbrauch von Schülerinnen und Schülern an der Odenwaldschule (OSO). Er zeigt schonungslos, aber in ruhiger, sachlicher Art die verqueren Hintergründe auf und entlarvt in Interviews mit Lehrern und Schulleitern deren Wegschau-Mentalität, Naivität, Blindheit und Hilflosigkeit, "um den Ruf der Schule nicht zu ruinieren". Die Rede war davon, "alles zu tun, damit wir nicht in die Bild-Zeitung kommen". Ein anderer nannte den Missbrauch "denkunmöglich". Dabei wurden neue Schüler vom einstigen OSO-Leiter Gerold Becker stets mit den Worten begrüßt: "Hier ist alles erlaubt".

Im vergangenen Jahr wurde der 90-Minuten-Film am 9. August erstmals in der ARD ausgestrahlt und später in Regionalprogrammen wiederholt. 2012 wurde die Dokumentation der beiden Filmemacherinnen Luzia Schmid und Regina Schilling mit dem Grimme-Preis in der Kategorie Info und Kultur ausgezeichnet.

Am frühen Sonntagabend lief der Film als öffentliche Veranstaltung im Saalbau-Kino - vor fast leeren Rängen. Etwa 20 Zuschauer - davon die meisten in das Geschehen auf irgendeine Weise eingebunden - interessierten sich zwei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals für das, was vor ihrer Haustür passierte, für das Leid der Opfer, die Unfähigkeit der Verantwortlichen, sich den Vorwürfen zu stellen, und die Lehren, die gezogen werden müssen.

Die Juristin Tillmann, die mit der juristischen Aufarbeitung der Missbrauchsfälle beauftragt war und sich gemeinsam mit den Regisseurinnen und Adrian Koerfer vom Opferverein Glasbrechen nach dem Film den Fragen der wenigen Besucher stellte, machte das offensichtliche Desinteresse "nachdenklich". Es könne möglicherweise damit zu tun haben, dass den Verbrechen um das Missbrauchssystem von Gerold Becker in den vergangenen 24 Monaten in der Öffentlichkeit viel Raum eingeräumt wurde. Aber "das war richtig", betonte die Richterin.

Bis an die Schmerzgrenze

Die Dokumentation zeige deutlich, wie Lehrer heute noch unterschiedliche Erklärungen dafür finden, dass sie nichts gesehen haben oder gesehen haben wollen. "Viele sind in den Gesprächen bis an ihre persönliche Schmerzgrenze gegangen", beschreiben die Filmemacherinnen ihre Interviewpartner von der OSO. Und "es waren nicht sehr viele, die mit uns sprechen wollten".

Eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen an den Kindern sei wegen der lange zurückliegenden Taten und deren Verjährung nicht mehr möglich, beantwortete Brigitte Tillmann die Frage einer Besucherin.

Missbrauchsopfer brauchen durchschnittlich "bis zu 20 Jahre, bis sie jemand davon erzählen." Viele Kinder versuchten sich Eltern oder Lehrern anzuvertrauen, aber man glaube ihnen nicht oder höre nicht zu. "In der Regel braucht das Opfer acht Erwachsene, bis es einen gefunden hat, der ihm glaubt", machte Tillmann das Dilemma anhand von Zahlen deutlich. Ein Missbrauchsopfer begründete das jahrelange Schweigen so: "Aus Liebe zu meinen Eltern habe ich nichts erzählt. Sie hätten es nicht verkraftet." Koerfer ergänzte: "Weil man sich schuldig und beschmutzt fühlt."

"Wir müssen ein Bewusstsein schaffen, um den Mantel des Schweigens endlich abzulegen" und anerkennen, dass Missbrauch lebenslanges Leid und lebenslange Wunden verursacht, sieht Adrian Koerfer von "Glasbrechen" den Anfang jeder Prävention. Aufklärung und Achtsamkeit und eine entsprechend sensible Ausbildung von pädagogischen Kräften seien dabei unerlässlich.

Mindestens 132 Missbrauchsopfer hat es an der Odenwaldschule gegeben. So viele haben sich bislang gemeldet. Adrian Koerfer spricht sogar von 500 bis 1000 Opfern. Elf Suizide hat es im Umfeld von Gerold Becker gegeben. Brigitte Tillmann dazu: "Man kann sich die Ursachen denken und fühlen, aber man kann sie nicht beweisen. gs

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger