Bergstraße. Es waren nicht die extra angerichteten Gurken-Sandwiches zum Tee, die am Sonntagnachmittag über 300 Gäste in die Saalbau-Lichtspiele gelockt haben. Es war branchenspezifisch wohlklingende Name der Autorin, die als große alte Dame der deutschen Kriminalliteratur gilt.
Nach der Matinee samt Preisverleihung im Hemsbacher Brennessel-Kino (wir berichteten) präsentierte Ingrid Noll in Heppenheim ihr neustes Buch „Tea Time“. Die erste Gemeinschaftsproduktion der beiden Kinos stießt auf enorme Resonanz. Das (überwiegend weibliche) Publikum erlebte eine bestens aufgelegte Schriftstellerin, die es verstanden hat, bei den Zuhörern die Lust auf ihren Neuling zu schüren, ohne allzu viel von der Geschichte preiszugeben.
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Doch es dauerte nicht lang, um zu spüren, dass es sich bei dem jüngsten Krimi um einen typischen Noll handelt. Die Protagonistinnen sind eine Handvoll neurotische, abgebrühte Frauen, von denen jede einen mehr oder weniger ausgeprägten Spleen hat, um in den internen „Klub der Spinnerinnen“ aufgenommen zu werden.
Die verlorene Handtasche, die ein arbeitsloser Alkoholiker findet und damit die Handlung richtig in Gang bringt, ist nur der dramatische Rahmen für ein Panoptikum an weiblichen Typen, die Noll einmal mehr so lebensprall in Szene zu setzen weiß.
Undurchsichtige Frauen
Mit einer klaren, schnörkellosen Sprache und einem ungekünstelten literarischen Stil ohne atmosphärische Tiefgänge inszeniert die Autorin eine Story mit bewährten Zutaten und den üblichen leicht verdrehten Charakteren, von denen die eine dauernd Teppichfransen gerade kämmt, während eine andere in Wolken ihre Zukunft liest.
Und die Ich-Erzählerin Nina hat panische Angst davor, dass man ihr nachts die Gliedmaßen abhackt, die unter der Decke hervorgucken. Auch die obligatorische Apotheke kommt wieder vor, giftige Kräuter und jede Menge undurchsichtige Frauen, die die sprichwörtliche Leiche im Keller oder einen Kerl auf dem Kicker haben.
„Sind wir nicht alle ein bisschen verrückt?“, fragt die Krimiautorin in Heppenheim in den Saal und beantwortet das kopfnickend sogleich selbst. Bei ihr selbst sei es Milch. Sie möge Käse und Quark, doch in seiner flüssigen Urform verursache die weiße Substanz einen Ekel in ihr. Das sollte wissen, wer Frau Noll zum Kaffee oder Tee empfängt. Irgendeinen Tick habe schließlich jeder, und sie habe diese menschliche Natur lediglich ein wenig auf die Spitze getrieben beziehungsweise literarisch konzentriert, so die Autorin im randvoll besetzten Saalbau, wo Betreiber Jörg Fritz den Ehrengast und das Publikum begrüßte.
Schauplatz Weinheim
Aber es wäre kein klassischer Noll, wenn es nur um Liebe, Eifersucht oder banale Finanzen ginge. Eine ordentliche Dosis kriminelle Energie schwingt stets mit, wenn sie ihre weinseligen Ladies auf den erwartungsfrohen Leser loslässt und ihre oftmals subtilen, stets kreativen Morde inszeniert. Da wird eingebrochen und geklaut, körperlich getreten und verbal ausgeteilt – und das Gift ist auch hier das letzte Mittel, um in Ungnade gefallene Herren ohne Blutvergießen ins Jenseits zu schicken.
„Tea Time“ ist der erste Roman, der in Ingrid Nolls Heimat Weinheim spielt. Nina wohnt in einem Fachwerkhaus am Marktplatz, der Garten des Hermannshofs bietet ihr Motive für ihre Pflanzenfotografie, und die Klub-Ausflüge führen unter anderen zur Burg Windeck oder in den Schlosspark.
Auch die Altmeisterin des Genres nutzt die regionale Komponente, um den Leser mit Orten zu beschenken, die er wiedererkennen kann, was wohl dazu einlädt, sich mit der Geschichte in irgendeiner Form zu identifizieren und die Fantasie mit realen Bildern anzureichern. Ein veritabler „Regionalkrimi“ ist das Heimspiel aber dennoch nicht. Zum Glück, möchte man ausrufen.
Treu bleibt sich die Autorin bei der Rollenverteilung: Ins Gras beißen stets die Herren. „Ich habe mit Männern keinerlei Problem“, betont sie in Heppenheim. Schließlich sei sie 62 Jahre verheiratet gewesen und habe zwei Söhne. Doch die Psyche der Frau sei ihr naturgemäß näher. Es fiele ihr vergleichsweise schwerer, einen Mann eine Frau umbringen zu lassen.
In einigen Kurzgeschichten hatte sie das schon probiert. Doch im Visier hat sie zumeist langweilige Ehemänner, dreiste Fremdgeher und undankbare Liebhaber, die sie auf mysteriöse Weise um die Ecke bringt. Blut fließt dabei so gut wie nie. Die „Lady of Crime“ verabscheut Gewalt.
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