Region. Blitzlichtgewitter statt Donnergrollen: Es herrscht eitel Sonnenschein bei der Premiere der Nibelungenfestspiele. Dabei hatten die Verantwortlichen durchaus gezittert angesichts der noch am Mittwoch vorhergesagten schweren Unwetter. Erst am Premierenmorgen hatte es vom Deutschen Wetterdienst Entwarnung gegeben: kein Regen, kein Unwetter am Freitagabend.
Ein kühler Wind, der während der Premierenvorstellung über die Festspielbühne vor dem Nordportal des Doms fegt und manche Frau im schulterfreien Kleid frösteln lässt, betreibt zudem Geheimnisverrat, weht um Einiges zu früh den Stoff beiseite, der den Leichnam Siegfrieds bedeckt – das zentrale Element der Inszenierung. Die Leiche will nicht aufhören zu bluten. Dutzende Liter von Kunstblut fließen über die Bühne, machen aus dem Boden eine rutschige Fläche, was den einen oder anderen Beteiligten beim Schlussapplaus schwer ins Schlingern bringen lässt.
Theatererlebnis für Bensheimer Schüler
Kann der drohende Krieg zwischen Burgundern und Hunnen noch verhindert werden? Diese Frage steht im Zentrum des neuen Stücks der Wormser Nibelungenfestspiele. Sie interessierte auch die 35 Schüler der Geschwister-Scholl-Schule in Bensheim. Die Jugendlichen hatten die Gelegenheit die Generalprobe zu besuchen und sie kamen so in den Genuss des neuen Stücks „Der Diplomat“, das am Freitag Premiere in Worms hatte.
Die Jugendlichen gehören dem Deutsch-Grund- und Leistungskurs der Jahrgangsstufen elf und zwölf der Geschwister-Scholl-Schule an. Zwar steht hier Georg Büchners Woyzeck oder Goethes Faust auf dem Lehrplan, wie die beiden Deutschlehrer Marc Kühn und Peter Ströbel erläutern – die Nibelungensage sei dagegen, im Unterschied zu früheren Jahren, nicht mehr Gegenstand des Deutsch-Unterrichts.
Drastische Bühnenszenen beeindrucken die Schüler
Beide Lehrer sitzen mit den Schülern auf der Festspieltribüne. Die Fahrt nach Worms hätten die Jugendlichen, teilweise mit elterlicher Unterstützung, selbst organisiert, berichten sie. Zwar gebe es aus Sicht der Bensheimer Schulen regionale Bezüge zur Nibelungensage, deren Szenen – etwa der Mord Hagens an Siegfried – teilweise in den Odenwald verortet werden. Doch sehen die Pädagogen keinen aktuellen Anlass, die Sage als Unterrichtsstoff zu behandeln.
Aus pädagogischer Sicht sei es vielmehr interessant, den Schülern mit „Der Diplomat“ ein Stück zu präsentieren, das nicht nur als Drama in gedruckter Fassung vorliege, sondern direkt für eine Open-Air-Bühne geschrieben worden sei. Verfasst haben es die beiden Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel. Inszeniert wird es vom Schweizer Regisseur Roger Vontobel. Und von den drastischen Bühnenszenen sind auch die Jugendlichen aus Bensheim beeindruckt. Immerhin bekommen sie noch vor der Premiere eine komplette Fassung des Stücks geboten – inklusive den für eine Generalprobe typischen provisorischen Charakter. So fällt mal ein Mikrofon aus oder die Souffleuse muss bei einer entfallenen Textpassage aushelfen.
Aber all das tut der Atmosphäre auf der Bühne vor dem Wormser Dom keinen Abbruch: Sie ermöglicht ein unmittelbares Theatererlebnis, das aus keiner Konserve gewonnen werden kann. Davon haben sich auch die Schüler aus Bensheim überzeugt. urs
Doch vor der Premierenvorstellung steht erst einmal der rote Teppich vor dem Kunsthaus Heylshof als Eingang aufs Festspielgelände auf dem Programm. Die prominenten Ehrengäste kommen diesmal vor allem aus der Politik – kein Wunder, bietet das Stück „Der Diplomat“ doch so viele Anknüpfungspunkte zu den politischen Realitäten wie selten.
Besonders gefragt diesmal ist Alexander Schweitzer. Der frischgebackene Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz absolviert seinen ersten gesellschaftlichen Auftritt in Worms – und bekommt am roten Teppich von den Zaungästen herzlichen Applaus. Für den warmherzigen Empfang bedankt er sich, lässt sich unendlich viel Zeit für Gespräche, Autogramme und Selfies mit den Bürgerinnen und Bürgern abseits des roten Teppichs. Zwischendrin gibt’s ein Gruppenbild mit der halben Landesregierung: Die Ministerinnen Daniela Schmitt, Katharina Binz, Katrin Eder und seine Nachfolgerin als Sozialministerin, Dörte Schall, sind auch da. Schweitzer witzelt: „Wir sind als Kabinett abstimmungsfähig“. Dann spurtet er nochmals in die Zuschauermenge.
Das Thema passt hervorragend in die Zeit
Ja, der Empfang habe ihm gefallen, gesteht der 2,06 Meter große Regierungschef. Die Festspiele seien ohnehin einer der Höhepunkte der Woche – natürlich nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten. Schweitzer war schon häufiger Premierengast bei den Nibelungen, als Minister und in anderen Funktionen. „Aber ich komme auch gerne einfach als Alexander Schweitzer.“ Schließlich seien die Festspiele ein kulturelles Highlight in Rheinland-Pfalz. Zudem passe es hervorragend in die Zeit, mal den Blick auf eine Randfigur des Figurenensembles zu lenken, nämlich auf den Diplomaten Dietrich von Bern. Der versucht, Kriege zu verhindern, freilich am Ende nicht sonderlich erfolgreich.
Nibelungenfestspiele
- Das Festspielstück „Der Diplomat“ wird noch bis zum Sonntag, 28. Juli, vor dem Nordportal des Doms gespielt
- Restkarten dafür gibt es unter nibelungenfestspiele.de
- Außerdem lässt sich an jedem Abend „das schönste Theaterfoyer Deutschlands“ genießen. Flanierkarten für den Heylshofpark gibt es an der Tageskasse für vier Euro. Der Park öffnet um 17.30 Uhr
- Das Kulturprogramm der Festspiele bestreiten vor allem frühere Festspiel-Akteure mit Solo-Programmen: Nina Petri, die Brünhild der Inszenierung von 2009, präsentiert am 25. Juli ihre Lesung „Unheimlich!“ Wiebke Puls, Sophie von Kessel und Dennenesch Zoudé spielen das Stück „Falsche Götter“ von Albert Ostermaier am 27. Juli
- Zum 100. Geburtstag zeigt das Wormser Kino Fritz Langs „Die Nibelungen“, am Flügel begleitet von Stephan Graf von Bothme
- nibelungenfestspiele.de bjz
Claudia Roth hält ein flammendes Plädoyer für die Kunst
Ein weiterer hochrangiger Gast ist die Berliner Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Beim Empfang von Oberbürgermeister Adolf Kessel darf sie ein Grußwort sprechen, hält aber tatsächlich ein kleines, alles andere als banales Grundsatzreferat. Es wird ein flammendes Plädoyer über die Bedeutung der Kunst für den politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Sie nennt die Nibelungenfestspiele gar „legendär“, dankt für den kreativen Mut, Geschichte und Gegenwart miteinander zu verbinden. Mit Blick auf das Thema des Stücks und die aktuellen politischen Herausforderungen mahnt sie: „Wer Kriege verhindern will, muss früh anfangen.“ Kunst und Kultur seien kein Luxus, sondern „Elixier und Saum der Demokratie“.
Das sei ein mächtiges Grußwort gewesen, sagt Schweitzer danach und meint verschmitzt:. „Da müssen sich die Schauspieler strecken, um das zu toppen.“ Schweitzer lobt in seinem Grußwort ausdrücklich Nico Hofmann, der gerade erst sein Engagement als Intendant in Worms bis 2028 verlängert hat. Der fühlt sich angesichts der lobenden Worte sehr geehrt und zeigt sich in diesem Jahr sehr entspannt angesichts der Arbeit von Regisseur Roger Vontobel, der mit seiner dritten Arbeit für die Festspiele ja sozusagen Hausregisseur sei. Und auch das Ensemble spiele in diesem Jahr zusammen. „Das war hier nicht immer der Fall“, deutet Hofmann an.
Kurz vor Mitternacht fällt dann der imaginäre Vorhang. Schnell erheben sich die ersten Premierengäste zum stehend gespendeten Applaus. Dieser hält etwas mehr als fünf Minuten an, bleibt durchweg freundlich, wird aber nie frenetisch. Bei der Premierenfeier wird eifrig diskutiert über die Einzelleistungen der Schauspieler, das Thema und das dystopische Ende. Ja, das Stück sei verständlich und nachvollziehbar. Und das sei in Worms ja nicht immer so gewesen. „Der Diplomat“ wirkt definitiv nach.
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