Bergstraße. Die Blumen auf der Wiese sind vertrocknet. Selbst die nassen Tränen, die an diesem Tag fließen, können sie nicht mehr zum Blühen bringen. Denn die Liebe des jungen Müllers ist erloschen, der Freitod steht kurz bevor. Es sind nur wenige Zeilen, die Lina Kochskämper aus dem Gedicht „Trockne Blumen“ vorliest, doch sie lassen erahnen, was gleich kommt: Die Flötistin spielt mit Viktor Soos am Klavier nun die Schlussphase des Liederzyklus „Die schöne Müllerin“. Es ist das einzige Stück, das der österreichische Komponist Franz Schubert für die Flöte geschrieben hat – und zugleich ist es wohl eines der gefühlvollsten Lieder des Abends.
Das aus Kochskämper und Soos bestehende Clarke-Duo ist am Samstag auf Einladung des Lions Clubs Bergstraße für ein Benefizkonzert im Kurfürstensaal in Heppenheim aufgetreten – und hat dem Publikum im Kurmainzer Amtshof Kammermusik zum Träumen beschert. Denn obwohl die Stücke bisweilen dramatische Passagen enthalten, wirkt der musikalische Dialog zwischen Kochskämper und Soos so harmonisch, dass die romantischen Elemente keineswegs überlagert werden.
Da sind zum Beispiel die sanften Klänge der erst 22 Jahre alten Kochskämper an der Querflöte, die sich wie ein warmer Schleier um den Saal legen. Kochskämper studiert Musik in Hannover und spielt zudem an der Staatsoper in Hamburg im Orchester. Dazu kommt das kraftvolle Klavierspiel ihres Partners Soos, der mit seinen 29 Jahren so mit der Musik verbunden scheint, dass er seinen ganzen Oberkörper zum Spielen einsetzt. Deutlich wird das zu „La Flute de Pan“ von dem französischen Komponisten Jules Mouquet. Da zieht Soos ganz kurz am Klavier die Schultern leicht zusammen, macht sich etwas kleiner als sonst, spielt aber weiter, ehe er die Hände hochreißt. Dann schlägt er mit einer atemberaubenden Qualität wieder von oben in die Tasten. Es wirkt geradezu, als schmiege er sich an die Klänge, die das Klavier in diesen Sekunden in den Saal gibt, so geschmeidig bewegt sich sein Körper zur Musik.
Das Publikum lauscht der Musik, driftet aber nicht ab.
Nicht nur Soos beherrscht solch dynamische Passagen. Kochskämper brilliert an der Querflöte zum Beispiel mit kernigen, energetischen Klängen und bleibt dabei mit ihrem kongenialen Partner stets im musikalischen Dialog. Bisweilen schauen sich die beiden kurz an und lächeln glücklich, bevor sie einen neuen Satz spielen. Diese Harmonie zwischen Soos und Kochskämper trägt durch den Abend. Denn obwohl das Duo kraftvolle Passagen ausfüllend spielt, überdreht es nie. Das spiegelt sich im Publikum wider, Hände und Hüftgelenke bleiben an ihrem üblichen Platz. Stattdessen lehnen manche den Kopf leicht zur Seite, nur von der Hand gestützt, und lauschen der Musik. Zugleich schafft es das Duo, stets die Spannung zu halten. Das Publikum träumt, driftet aber nicht ab.
So richtig deutlich wird das zu „Undine“. Die von Carl von Reinecke komponierte Sonate – so bezeichnet man ein aus mehreren Sätzen bestehendes und für eine kleine Besetzung geschriebenes Instrumentalwerk – spielen die beiden am Stück durch. Während des etwa 20 Minuten langen Klangkunstwerkes bauen sie immer wieder zwei bis drei Sekunden lange Pausen ein.
Lang genug, um als Publikum zu verstehen, dass nun ein neuer Satz beginnt. Zugleich ist die Pause aber nicht zu lang, so dass Kammermusik-Laien nicht versehentlich mit dem Klatschen beginnen. Wobei die Zuhörer an diesem Abend ausgesprochen fachkundig sind. Trotzdem erzählt das Duo die Sagen und Legenden, die zu den Liedern gehören und nimmt das Publikum so mit auf eine Reise voller Mythen. Das besagte Stück „Undine“ handelt zum Beispiel von einem Wassergeist, der den untreuen Ehemann in die Tiefen des Ozeans reißt. Zu „Orfeo ed Euridice“ von Christoph Willibald Gluck steigt Orfeo zu seiner verstorbenen Ehefrau Euridice in die Unterwelt hinab, um sie zurückzuholen. Den Göttern hat er versprochen, sich auf dem Rückweg nicht zu seiner Frau umzudrehen. Doch Orfeo lässt sich von Euridices Wunsch erweichen und wendet den Blick – woraufhin diese abermals in die Tiefen der Unterwelt stürzt.
Die klangliche Begleitung dieser Dramen ist aber so exzellent, der musikalische Dialog zwischen Pianist Soos und Flötistin Kochskämper so fein austariert, dass die romantischen Elemente stets präsent bleiben. So bietet dieses von Sagen und Mythen, von Glück und Unglück inspirierte Kammerkonzert dem Publikum musikalische Fantasiewelten, die zum Nachdenken anregen – und damit weit über diesen Abend hinaus nachhallen.
Ehrung für Christoph Bergner
Schon bevor das Konzert begann, hatte es einen emotionalen Höhepunkt gegeben. Das langjährige Mitglied des Lions Clubs, Pfarrer Christoph Bergner, wurde für sein vielfältiges Engagement ausgezeichnet. Bergner ist der Organisator von Kammerkonzerten wie diesem und setzt sich zudem für Bildungsprojekte in Tansania ein. Als der ehemalige Distrikt-Governor des Lions Clubs, der Viernheimer Manfred Fraas, ihm den renommierten Melvin-Jones-Fellow überreichte, fehlten Bergner die Worte. Er dachte aber an seine Frau und bedankte sich bei ihr, die zur gleichen Zeit auf einem Kammerkonzert in Bensheim war. Den Preis habe er „unverdient“ erhalten, sagte der bescheidene Bergner. Doch das fachkundige Publikum war anderer Meinung und spendete langen Applaus.
Zur Einordnung: Der Geschäftsmann Melvin Jones gründete den Lions Club im Jahr 1917 in den Vereinigten Staaten. Von ihm soll sinngemäß das Zitat stammen: „So richtig erfolgreich bist du erst, wenn du anderen hilfst“, wie Experte Fraas nach dem Konzert erzählte. Seit der Gründung setzen sich die mittlerweile mehr als 1,4 Millionen Mitglieder in mehr als 200 Ländern und geographischen Gebieten für die Erreichung humanitärer und sozialer Ziele ein. Dazu zählt der Bau von Augenkliniken in den ärmsten Regionen der Welt, um sehkranken Kindern mit einer Operation ihr Augenlicht wieder zu schenken. „Damit gibt man den Menschen ihr Leben zurück“, sagte Fraas.
Der am Samstagabend verliehene Melvin-Jones-Preis ist die höchste Auszeichnung innerhalb der Organisation für Persönlichkeiten, die sich in besonderem Maße engagiert haben. Die Einnahmen aus dem besagten Kammerkonzert werden wie jedes Jahr für den guten Zweck gespendet. Das sagte der jetzige Präsident des Bergsträßer Clubs, der Bundestagsabgeordnete Michael Meister (CDU), in seinem Grußwort.
Mehr als 50.000 Lions engagieren sich in ganz Deutschland
Bei der sogenannten Zonenveranstaltung waren folgende Lion Clubs beteiligt: Bergstraße (Bensheim, Zwingenberg, Lorsch und Lautertal), Heppenheim, Lampertheim, Viernheim, Weinheim, Rimbach-Weschnitztal und Überwald-Weschnitztal. Zonen wie diese schließen sich wiederum zusammen zu einem Distrikt, wovon es in Deutschland 19 gibt. Diese 19 Distrikte bilden den Multidistrikt Deutschland, der nach Angaben von Fraas der zweitgrößte Multidistrikt der Welt ist, direkt hinter den Vereinigten Staaten.
Mehr als 50.000 Lions engagieren sich in ganz Deutschland. Der Distrikt „Mitte-Süd“, zu dem die Bergstraße gehört, umfasst Südhessen, das Saarland, Rheinland-Pfalz und Weinheim. Dort sind insgesamt mehr als 4000 Mitglieder in 116 Clubs organisiert. Fraas wies darauf hin, dass er sich auch über mehr Frauen in den Clubs freue. Der Leitspruch, der unterdessen alle Mitglieder auf der Welt eint, lautet: „We serve.“ Was sinngemäß bedeutet, dass sich die Lions den Menschen in Not verpflichtet haben. Seit mehr als 100 Jahren.
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