Stuttgart. Wie ein Prozess verläuft, das bestimmen Richter, Staatsanwälte, Verteidiger. Der Angeklagte ist die meiste Zeit über stummer Zuhörer. Doch ganz zum Schluss, wenn alle Fragen gestellt und alle Plädoyers gehalten wurden, erhält der Angeklagte noch einmal das Wort, das letzte Wort, so schreibt es die Strafprozessordnung vor.
Am Montag erteilt der Vorsitzende des Staatsschutzsenats am Oberlandesgericht in Stuttgart dem Angeklagten Sulaiman A. dieses letzte Wort. Doch, was bleibt zu sagen, am 35. Tag im Prozess um das Messerattentat in Mannheim? Nach unzähligen bewegenden Berichten von Menschen, für die der 31. Mai 2024 einen lebensverändernden Einschnitt markiert? Nach systematischen Chat-Auswertungen und Übersetzungen, die Islamwissenschaftler akribisch mit dem Senat seziert haben? Nachdem Aufnahmen des Live-Streams auf die Großleinwände des Gerichtssaals projiziert wurden, wieder und wieder abgelaufen sind, in slow-motion und in Normalgeschwindigkeit?
„Ich wünschte, ich hätte mich nicht manipulieren lassen“
Sulaiman A. spricht nur wenige Minuten, er sagt, was er getan habe, werde ihn ein Leben lang begleiten. „Das werde ich mir nie verzeihen“, sagt er. Und weiter: Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen. „Ich wünschte, ich hätte mich nicht manipulieren lassen. Ich wünschte, ich hätte mich nie auf den Weg nach Mannheim gemacht. Ich wünschte, ich hätte diese verrückte Tat nie begangen.“
Die bewegenden Berichte der Familie Laur verfolgen ihn, sagt Sulaiman A. am vorletzten Prozesstag. Er habe sogar von der Familie geträumt. Das Leid, das er ihnen zugefügt habe, ließe sich kaum begreifen. „Eltern ziehen ihren Sohn zwanzig, dreißig Jahre groß, versorgen ihn mit Liebe und dann kommt einer und tötet ihren Sohn, es gibt nicht viel Schlimmeres als diese schreckliche Tat“, sagt er. Er hoffe, dass die Familie irgendwann damit abschließen könnte. Er wolle sich entschuldigen, auch wenn die Tat unentschuldbar sei. Und er hoffe, diese Entschuldigung könne angenommen werden, sagt er.
Zum dritten Mal in diesem Prozess nimmt der Angeklagte Raum ein. Ganz am Anfang des Verfahrens, da beschrieb er die Anfänge seines Lebens, seine Kindheit und Jugend im afghanischen Herat, der drittgrößten Stadt des Landes im Westen, an der Grenze zum Iran. Dann sprach er über seine Flucht, die ihn über den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien nach Deutschland führte.
Er berichtete, wie er und sein Bruder nach drei Monaten in Frankfurt nach Bensheim an der südhessischen Bergstraße verlegt wurden, in ein Kinder- und Jugendheim. Sulaiman A. wohnte mit den Minderjährigen auf einem Stockwerk, sein Bruder mit den Volljährigen auf einem anderen. Knapp drei Jahre blieb er dort. An der südhessischen Bergstraße lernte er Deutsch und machte schließlich an der Abendschule seinen Realschulabschluss. In Deutschland lief es zunächst gut für Sulaiman A. Er wurde zum stellvertretenden Schulsprecher gewählt und trainierte hart im Taekwondo. Doch dann beendete eine Knieverletzung seine sportliche Karriere, bevor sie richtig losgegangen war.
Auf der Schule lernte er seine spätere Frau kennen, eine türkischstämmige Deutsche. Kurz nach ihrem 18. Geburtstag heirateten beide. Gegen Ende des Prozesses machte die Ehefrau selbst eine Aussage, beschrieb ihr Familien- und Zusammenleben.
Sulaiman A. berichtete, wie motiviert er gewesen sei, seine Ausbildung voranzutreiben, während er 2020 zum ersten Mal Vater wurde und 2024 zum zweiten Mal. Tagsüber jobbte er stundenweise, abends ging er zur Schule, beruflich schaffte er es allerdings nicht, in Deutschland Fuß zu fassen. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs herum.
Zum zweiten Mal ertönte Sulaiman A.s Stimme Ende März, stundenlang beschrieb er seine Radikalisierung, die aus seiner Verzweiflung über den Gaza-Konflikt erwachsen sein soll. Er erzählte, wie er bei einem Stadtbummel zum ersten Mal auf Michael Stürzenberger aufmerksam wurde und dann dessen Kanäle abonnierte. Er beschrieb den Moment, in dem er zum ersten Mal darüber nachdachte, Michael Stürzenberger zu töten, wie er danach mit dem radikalen Einflüsterer OR seine Gedanken sortierte und schließlich ein Messer, eine Zwille und Munition besorgte.
Detailgetreu zeichnete er den Morgen nach, an dem er nach Mannheim fuhr – bis zu jenem Moment, in dem er dachte: „Heute muss jemand sterben.“ Danach ging er auf den Polizisten Rouven Laur los und verletzte ihn tödlich.
In einem Gespräch mit dem Psychiatrischen Sachverständigen soll Sulaiman A. gesagt haben, wie sehr er das deutsche System schätze, wie er vor Gericht behandelt werde, dass er reden dürfe, dass man ihm zuhöre, dass man sich für ihn interessiere. Das sei bemerkenswert.
Während seines letzten Worts sagt er am Montag, wie sehr er die Tat bereue. Zwar gebe es Menschen, die sagen, er spiele die Reue nur vor. Aber warum sollte er das tun, in Deutschland würde er nicht gefoltert, wenn er keine zeige. Seine Reue sei echt.
Über die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen muss nun der Staatsschutzsenat entscheiden. Am Dienstag um 9 Uhr wollen die Richter und die Richterin das Urteil verkünden.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/region-bergstrasse_artikel,-bergstrasse-mannheim-messer-attentat-_arid,2328354.html