Aktion

Brötchentüte mit wichtiger Botschaft

Kreis Bergstraße beteiligt sich wieder an der internationalen Kampagne „Gewalt kommt mir nicht in die Tüte“ / 120 Bäckereien dabei / Schnelle Hilfe für Betroffene

Von 
Thomas Tritsch
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Dem Arbeitskreis gegen Häusliche Gewalt im Kreis und dem Kreiskrankenhaus Bergstraße kommt Gewalt nicht in die Tüte. Im Kreiskrankenhaus erhalten Betroffene schnelle und unkomplizierte Hilfe. © Thomas Neu

Bergstraße. Auch in diesem Jahr findet kreisweit wieder eine Brötchentütenaktion statt, die ein deutliches Zeichen gegen Gewalt setzen soll. Rund um den 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, werden im Landkreis etwa 120 000 Tüten verteilt. 120 Bäckereien und Filialen machen mit.

„Gewalt kommt mir nicht in die Tüte“ lautet die unmissverständliche Botschaft, die in zehn Sprachen ein Zeichen gegen physische und psychische Übergriffe in jeder Form setzt. Die Aktion wird seit 2007 vom Arbeitskreis gegen Häusliche Gewalt im Kreis Bergstraße initiiert. Die Brötchentüten werden aus Mitteln des hessischen Sozialfonds finanziert. Im Zuge der Aktion werden in Städten und Gemeinden ab 24. November Fahnen gehisst und Veranstaltungen angekoppelt, die das Thema in die Öffentlichkeit bringen sollen. Laut Statistik ist in Deutschland jede dritte Frau von häuslicher Gewalt und/oder sexuellem Missbrauch betroffen.

Viele Taten werden nicht angezeigt

Die Kampagne will das Thema aus dem privaten Dunstkreis herausholen und in die Öffentlichkeit bringen, so Landrat Christian Engelhardt bei der Auftaktveranstaltung im Kreiskrankenhaus Bergstraße. Es gehe darum, Aufmerksamkeit zu schaffen und die Dunkelziffer zu senken. Denn viele Taten werden nach wie vor nicht zur Anzeige gebracht. „Wir dürfen nicht wegschauen“, betont die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte im Kreis Bergstraße, Alexandra Schmitt. Es gehe darum, Betroffenen schnelle und passgenaue Hilfsangebote zur Verfügung zu stellen, ergänzt ihre Kollegin Nicole Schmitt. Ein niederschwelliger Zugang sei von großer Bedeutung.

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Das bestätigt auch Cordula Müller. Sie ist Chefärztin der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe im Kreiskrankenhaus und informierte zum Kampagnenstart über die Hilfsangebote in der Klinik, wo die Gynäkologische Ambulanz rund um die Uhr an sieben Tagen der Woche Mädchen und Frauen innerhalb der ersten 24 Stunden nach einer Tat eine medizinische Untersuchung anbietet. Das Team vor Ort unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht, eine potenzielle Anzeige bei der Polizei erfolgt nur auf ausdrücklichen Wunsch des Opfers, so Müller.

Man geht davon aus, dass über 80 Prozent der Frauen keine Anzeige erstatten. Und von den Tätern, die vor Gericht stehen, werden weniger als zehn Prozent verurteilt. Die Strafen fallen zudem oft mild aus, weil in Fällen psychischer Gewalt (Beleidigungen, Bedrohungen) häufig Aussage gegen Aussage steht. Bei körperlicher Gewalt muss eine Frau die Vorfälle möglichst beweisen können.

Jeden dritten Tag ein Mord

Fakt ist, dass in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von einem Mann aus ihrem unmittelbaren Umfeld getötet wird. „Das Zuhause ist für viele Frauen der gefährlichste Ort“, so die Fachärztin. Die registrierten Fälle an sexualisierter Gewalt im häuslichen Bereich haben in den vergangenen Jahren weiter zugenommen. Die UN geht davon aus, dass jede dritte Frau in ihrem Leben mindestens einmal körperliche oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt. Das sind mehr als 12 Millionen Frauen. Alle vier Minuten erlebt eine Frau in Deutschland Gewalt durch Ihren Partner oder Ex-Partner.

Die UN-Kampagne „Orange The World“ macht seit 1991 darauf aufmerksam: vom Internationalen Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen am 25. November bis zum 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte.

Durch eine enge Zusammenarbeit des Kreiskrankenhauses mit der Gewaltambulanz der Rechtsmedizin an der Universitätsklinik Heidelberg seit 2018 haben Frauen neben einer genauen medizinischen Untersuchung außerdem die Möglichkeit, Beweise einer Tat als elementare Grundlage einer potenziellen Anzeige sichern zu lassen. Bis zu einem Jahr kann die Rechtsmedizin die Spuren aufbewahren. Das kann neben der Strafverfolgung auch für Forderungen von Schmerzensgeld und Schadensersatz in zivilrechtlichen Verfahren entscheidend sein. Sämtliche Verletzungen oder an der Kleidung können gesichert und später als Beweismittel verwendet werden. Erst im Fall einer Anzeigenerstattung wird das verpackte Material an die Polizei übergeben.

Kreisweit über 20 Personen und Institutionen

Für die Chefärztin ist die Chance aber auch eine wichtige Option, um Zeit zu gewinnen und sich etwa nach einer Vergewaltigung kompetente Unterstützung suchen zu können. „Betroffene sollen wissen, dass sie bei uns unkompliziert und empathisch medizinische Hilfe bekommen“, so Müller, die auch die Brötchentütenaktion als direkten Weg in die Öffentlichkeit begrüßt.

Im Arbeitskreis gegen Häusliche Gewalt sind kreisweit über 20 Personen und Institutionen organisiert – darunter die lokalen Gleichstellungs-und Frauenbeauftragten, die Polizei, das Frauenhaus Bergstraße, Pro Familia, das Netzwerk gegen Gewalt sowie Amtsgerichte, Jugend- und Gesundheitsamt. Ziel ist es, Frauen und Mädchen ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Leben zu ermöglichen und bei Anzeichen von häuslicher Gewalt schnell intervenieren zu können.

Durch ein weites Netzwerk soll das regionale Hilfesystem zudem engmaschiger und effizienter ausgebaut - und somit auch transparenter und bekannter werden.

Der Flyer des Arbeitskreises, in dem wesentliche Infos und Ansprechpartner komprimiert sind, wurde gerade neu aufgelegt und soll demnächst in weiteren Sprachen erscheinen, wie Alexandra Schmitt ankündigt: „Wir wollen auch Menschen aus anderen Herkunftsländern und Kulturen erreichen!“ Das Thema ist international, was sich auch auf den mehrsprachig bedruckten Brötchentüten spiegelt.

Auch auf ihnen sind wichtige Telefonnummern und Mailadressen aufgeführt, um schnell und gezielt Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Bei der Auftaktveranstaltung waren auch die Bürgermeisterinnen Christine Klein (Bensheim) und Barbara Schader (Bürstadt) sowie der Heppenheimer Rathauschef Rainer Burelbach anwesend.

Gewalt wächst weiter

Die Relevanz solcher Aktionen ist offensichtlich, denn die Gewalt innerhalb von Partnerschaften und Familien wächst seit 2018 konstant weiter. 432 Fälle wurden im vergangenen Jahr im Schnitt gemeldet – und das jeden Tag. Insgesamt waren es 157 550 gemeldete Taten. Das waren 9,4 Prozent mehr als 2021. 80 Prozent der Opfer waren Frauen, die Tatverdächtigen zu knapp 80 Prozent Männer. In rund 60 Prozent der Fälle der jeweils aktuelle Partner.

Das geht aus dem Lagebild zur häuslichen Gewalt hervor, dass der Bund im Sommer veröffentlicht hat. Besonders von Partnerschaftsgewalt betroffen sind Frauen zwischen 30 und 40 Jahren. Tatverdächtig sind besonders oft Männer im gleichen Alter. Opfer waren in den meisten Fällen (69 Prozent) deutsche Staatsangehörige.

Die jährliche Fahnenaktion wurde 2001 von der Menschenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ ins Leben gerufen. Rund um den 24. und 25. November – teilweise auch später – werden unter anderem in Bensheim, Heppenheim, Viernheim, Lampertheim und Bürstadt Fahnen an öffentlichen Gebäuden wehen, um auf die Kampagne „Nein zu Gewalt an Frauen“ hinzuweisen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Die Flaggen sollen verdeutlichen, dass Frauen und Mädchen auch weiterhin von geschlechtsspezifischer und struktureller Gewalt betroffen sind.

Info: Hilfsangebote für Betroffene im Kreis Bergstraße gibt es hier: www.kreis-bergstrasse.de/landkreis-politik/ kreisverwaltung/frauen-und-gleichstellungsbuero/gewaltpraevention-und-gewaltschutz

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