Bergstraße. Herr Engelhardt, am Dienstag (16.9.) werden sie seit zehn Jahren Landrat des Kreises Bergstraße sein. Auf einer Bewertungsskala von eins (schlecht) bis zehn (hervorragend), wie sich der Kreis in dieser Zeit entwickelt hat, welche Note würden Sie geben?
Christian Engelhardt: Es ist sehr schwierig, sich selbst ein Zeugnis auszustellen. In vielen Bereichen konnte ich den Kreis gut weiterentwickeln. Das gilt gerade für die Themen, die mir besonders wichtig sind: die Schullandschaft, die Digitalisierung oder die Weiterentwicklung der Verwaltung. Heranziehen kann man zur Beantwortung vielleicht den kürzlich erschienenen aktuellen Prognos Zukunftsatlas. Da hat sich der Kreis Bergstraße im Hessenvergleich von Platz zwölf im Jahr 2019 auf Platz vier im aktuellen Jahr verbessert.
Wenn Sie eine Entwicklung als besonders positiv herausstellen würden, wäre das die Schullandschaft?
Engelhardt: Ja, mir war es wichtig, dass wir Schulen komplett neu denken. Ich habe das die „Bergstraße-Strategie für moderne Schule“ genannt. Wir modernisieren Schulen mit Volldampf, Herzblut und vielen finanziellen Mitteln. Dabei setzen wir immer darauf, neue Pädagogik zu ermöglichen und dabei die Schulgemeinschaft mitzunehmen. Vor meiner Zeit als Landrat war die Höhe der baulichen Investitionen auch schon ordentlich. In den Jahren 2011 bis 2013 wurden dafür jährlich zwischen 17 und 25 Millionen Euro aufgewendet. Allein im letzten Jahr haben wir aber fast 80 Millionen Euro in die Schulen investiert, in diesem Jahr sind es 100 Millionen Euro. Wichtig ist uns dabei, dass wir erst einmal mit dem den Schulgemeinden die Bedarfe eruieren, die Pädagogik planen und die Konzepte dann in Architektur überführen.
Die Schulentwicklung war bereits im Wahlkampf 2015 ein wichtiger Punkt. Aber auch andere Themen ziehen sich bis heute durch, etwa die Migration. 2015 sagten Sie: „Die Landesregierung muss mehr Geld zur Verfügung stellen.“ Und: „Wir brauchen Einwanderung auch in unseren Arbeitsmarkt.“ Sehen Sie das heute noch genauso?
Engelhardt: „Wer bestellt, bezahlt“: Das muss tatsächlich gelten. Wir geben ein Großteil unseres Geldes aus, um bundesgesetzliche Aufgaben zu erfüllen, die in keiner Weise von uns gestaltet werden können. Das ist eine konkrete Forderung – heute wie damals. Meine Sichtweise, was die Zuwanderung im Arbeitsmarkt angeht, hat sich nicht verändert. Aber mein allgemeiner Blick auf die Frage „Können wir Migration gestalten?“ hat sich verändert, weil wir da tatsächlich inzwischen die Obergrenze erreicht haben. In der ersten Flüchtlingswelle 2015 waren unsere Kapazitäten und auch die Bereitschaft vieler Menschen, Flüchtlinge zu integrieren, höher als nach den letzten Jahren, in denen wir viele Millionen Menschen in Deutschland und viele Tausend im Kreis aufgenommen haben. Umso wichtiger ist es, den Schwerpunkt bei Zuwanderung auf gezielte Zuwanderung von Fachkräften in den Arbeitsmarkt zu setzen.
Wie gut hat der Kreis Ihrer Meinung nach diese Herausforderungen meistern können?
Engelhardt: Wir haben die Kernaufgaben bewältigen können, mit großer Belastung für die Mitarbeitenden, die Kommunen und auch die Finanzen. Die großen Herausforderungen waren zunächst einmal die tatsächliche Unterbringung - also Dach, Tisch, Schrank, Bett und Versorgung. Aber in Sachen „gute Integration“ sind wir noch auf dem Weg.
Der Kreis Bergstraße wurde auch in vielen überregionalen Medien häufig als Beispiel für die Probleme angeführt, die die Kommunen im Zusammenhang mit den hohen Flüchtlingszahlen zu bewältigen haben. Wie kam es dazu?
Engelhardt: Matthias Schimpf als zuständiger Dezernent und ich hatten sehr früh verabredet, dass wir das Thema Migration und die Herausforderungen transparent machen. Daher gab es ein Pressegespräch, an dem auch ein Vertreter der FAZ teilnahm. Und das bedingte ein Interview im Deutschlandfunk. Daraus resultierten letztendlich viele der nachfolgenden Berichterstattungen. Sicher war auch die Zeltstadt in Bensheim sehr gut geeignet, um die Situation zu veranschaulichen.
Kommen wir zu den Finanzen: Im Kreishaushalt 2015 lagen die Einnahmen und Aufwendungen jeweils etwa bei 340 Millionen Euro. Heute sind es jeweils 650 Millionen Euro. Wie kommt es, dass sich das Etat-Volumen fast verdoppelt hat?
Engelhardt: Zwischenzeitlich war die Finanzsituation relativ gut. Wir haben es geschafft – auch mit der Hessenkasse – unsere Kassenkredite auf null zu reduzieren und hatten zwischenzeitlich Jahr für Jahr Haushalte mit einem Finanzierungsüberschuss. Konnten also auch Liquidität aufbauen. Die Finanzlage ist erst seit kürzerer Zeit wieder so dramatisch. Auch infolge der Wirtschaftskrise. Aber woran liegt das? Das Gros unserer Aufwendungen sind soziale Transferleistungen. Der Kreis ist vor allem eine Sozialbehörde: Es geht um Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Bürgergeld, Sozialhilfe, Hilfe zur Pflege. Das sind mit Abstand unsere größten Ausgabenpositionen. Und diese Transferleistungen steigen in den letzten Jahren kontinuierlich dramatisch an. Und all diese Aufwendungen sind zu 100 Prozent bis ins letzte Detail vom Bundesgesetzgeber normiert.
Aber auch die Mitarbeiterzahl der Kreisverwaltung ist doch deutlich gestiegen.
Engelhardt: Die Personalstärke hat seit 2015 stark zugenommen. Na klar. Wir arbeiten mit festen Zeitanteilen für bestimmte Fälle. Wir haben deutlich mehr Fälle durch die Flüchtlingssituation; etwa im Bereich der Jobcenter, beim Ausländeramt und beim Sozialamt. Und dort ist Personal hinzugekommen. Dann gab es eine Wohngeldreform vom Bund, die ein erhebliches Fall- und damit Personalwachstum bedingt hat. Die Corona-Krise hat in einem erheblichen Maß zu einem Personalwachstum im Gesundheitsamt geführt. In den letzten Jahren sind wir sehr stark mit Zusatzaufgaben seitens der Bundesebene befrachtet worden. In all diesen Bereichen haben die Bürger einen Rechtsanspruch darauf, dass die Aufgaben erledigt werden.
Sehen Sie in der Digitalisierung jetzt auch eine Chance, Personal einsparen zu können?
Engelhardt: Digitalisierung hat einen mehrfachen Nutzen. Zum einen, dass der Staat für den Bürger besser erreichbar ist. Man kann eben seine Verwaltungsvorgänge rund um die Uhr von zu Hause aus erledigen und muss sich nicht an Sprechzeiten orientieren. Und natürlich kann ich mit Digitalisierung, vor allem wenn ich zur Automatisierung komme, Personal einsparen. Bei der Stellenplanung fürs nächste Jahr gibt es Bereiche, bei denen wir trotz steigender Fallzahlen nicht mehr ein so großes Personalwachstum haben: Weil Digitalisierung zu Effizienz führt. Die Digitalisierung sorgt aber auch dafür, dass wir unsere Arbeit resilienter organisieren können, also leistungsfähiger bleiben auch in schwierigen Zeiten.
Apropos schwierige Zeiten: Bundesweit schwächelt die Wirtschaft. Auch hier im Kreis hat schon die eine oder andere Kommune durch geringere Gewerbesteuereinnahmen Probleme bekommen. Was kann der Kreis tun, um die Wirtschaft vor Ort zu stärken?
Engelhardt: Grundsätzlich ist das ein sehr forderndes Thema, weil die meisten Rahmenbedingungen von den großen Marktteilnehmern global und national gesetzt werden. Wir können an unseren örtlichen Strukturen, also an der Standortqualität, arbeiten. Fachkräfte sind eines der wichtigsten Themen der Wirtschaft. Deshalb sind mir unter anderem auch die Schulen wichtig. Denn an Schulen schaffe ich idealerweise die bestens ausgebildete Arbeitskräfte für die Zukunft des Kreises, die ihre Stärken kennen und nutzen. Bei einem Regionalranking des Instituts der deutschen Wirtschaft haben wir uns um 82 Plätze verbessert.
Ein bestimmtes Thema Ihrer Amtszeit war sicherlich die Corona-Zeit. Wie ist der Kreis durch die Pandemie gekommen?
Engelhardt: Wir sind in Deutschland als Gesellschaft ganz gut durch die Pandemie gekommen. Aber es gab auch hier Tote, auch relativ früh. Darunter Menschen, die ich kannte. Es gibt hier Menschen, die bis heute unter den Auswirkungen von Infektionen, Kontaktbeschränkungen oder Impfungen zu leiden haben. Wir haben im Kreis aber durchaus nicht immer das gemacht, was vom Land als Leitlinie vorgegeben wurde, sondern versucht, mit Augenmaß zu handeln. Und vor allem: Wir haben viel kommuniziert.
Das Thema Gesundheit wird den Kreis auch nach der Pandemie beschäftigen. Wie sieht die Zukunft des Kreiskrankenhauses in Heppenheim aus?
Engelhardt: Das Thema Kreiskrankenhaus und die Krankenhausversorgung treibt uns derzeit sehr um. Die Krankenhaus-Strukturreform soll ja eine Schwerpunktbildung bei den leistungsstarken Einheiten schaffen. In Südhessen haben wir hingegen mehrere eher kleine Kliniken. Das ist eine Herausforderung. Die Leistungen des Kreiskrankenhauses und des Heilig-Geist-Hospitals in Bensheim überschneiden sich zudem inhaltlich sehr stark. Deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Kliniken eines der Themen, das wir derzeit intensiv angehen. Das Ziel ist eine gute Versorgung. Aber grundsätzlich ist das Kreiskrankenhaus nicht in Gefahr. Es arbeitet zwar defizitär, aber der Auftrag wird in welcher Struktur auch immer weiterhin erfüllt werden - als Notfallversorgungsstandort und als Allgemeinversorgungsstandort. Und das am besten noch besser als bisher.
2015 wurde den Landratskandidaten mit einem Augenzwinkern die Frage gestellt, ob sie sich eine Zusammenarbeit mit dem Kreisbeigeordneten Matthias Schimpf (Grüne) vorstellen können. Sie antworteten damals relativ neutral. Wie sehen sie das heute?
Engelhardt: Ich arbeite echt gerne mit Matthias Schimpf zusammen. Wir verstehen uns sehr gut. Bei Themen, um die er sich kümmert, wie im Augenblick die Afrikanische Schweinepest, weiß ich: Das muss ich nicht im Blick haben, das läuft. Ich finde auch, dass unser gemeinsames Wirken dazu geführt hat, dass unsere Fraktionen wirklich gut zusammenarbeiten.
Dass es für die aktuelle Kreiskoalition von CDU und Grünen auch nach der Kommunalwahl im März noch einmal reichen wird, kann man angesichts der aktuellen Umfragen nicht als gesichert ansehen. Würden Sie sich eine Neuauflage der Koalition wünschen?
Engelhardt: Also die Koalitionsfragen entscheiden ja die Parteien; und das auch erst nach der Wahl. Aber ich würde gerne die Zusammenarbeit mit der Ersten Kreisbeigeordneten Angelika Beckenbach und mit Matthias Schimpf fortsetzen. Das läuft wirklich gut.
Die Parlamentsarbeit könnte komplizierter werden, wenn die AfD noch weiter zulegen kann und weitere kleine Parteien wie das BSW, das einen eigenen Kreisverband gegründet hat, in den Kreistag einziehen.
Engelhardt: Insgesamt macht mir die Entwicklung populistischer und extremer Positionen Sorge. Populismus verspricht für komplexe und langjährige Herausforderungen vermeintlich einfache Antworten, die aber am Ende nicht funktionieren. Das ist schade, weil es keine Probleme löst, aber negativ auf die politische Kultur einzahlt.
Was sind die drei wichtigsten Aufgaben, die in den nächsten fünf bis sechs Jahren auf den Kreis zukommen werden?
Engelhardt: Das erste wichtige Thema ist, die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum zu gestalten. Eine gut funktionierende Wirtschaft ist die Grundlage dafür, dass wir viele andere Dinge überhaupt tun können. Wenn darüber diskutiert wird, ob in Bensheim Sportvereine und Sportanlage aus Kostengründen unterstützt werden, dann zeigt das, wie sehr man davon abhängig ist, dass die Unternehmen vor Ort gut funktionieren. Wichtig wäre ein noch breiterer Unternehmensmix, um die Risiken zu reduzieren. Zweites Thema ist Integration. Wir als Gesellschaft müssen es schaffen, die Menschen, die zu uns gekommen sind, mit Blick auf Kindergarten, Schule und Arbeitsmarkt so zu qualifizieren, dass sie wertbringend zu unserem Sozialstaat beitragen und so Teil unserer Gesellschaft sind. Dann würde auch dieses Störgefühl, das bei einem Teil der Menschen angesichts der großen Anzahl von Zuwanderern vorhanden ist, keine weitere Grundlage finden. Und schließlich müssen wir beim Kreis daran arbeiten, dass wir eine moderne, gute und leistungsfähige Infrastruktur haben.
Sie sind bekannt dafür, dass Sie gerne Social-Media-Beiträge erstellen. Auch privat, etwa wie Sie im Weihnachtspulli Adventskerzen anzünden. Ist das ein Hobby oder gehört das heute zur politischen Kultur dazu?
Engelhardt: Es gehört aus meiner Sicht zur Politik, wie sie heute ist, aber auch persönlich zu mir. Im Wahlkampf vor zehn Jahren lautete mein Slogan: „Modern, menschlich, mittendrin“. Social Media ist inzwischen ein Teil von „vor Ort sein“. Ich will im unmittelbaren Austausch mit den Menschen sein. Das gehört zum modernen Leben. Aufgrund der Komplexität der Themen ist es zudem wichtig, zu erklären und auch, dass die Menschen sehen, welche Person wie daran arbeitet. Und letztlich macht es mir Spaß, im Austausch zu sein und ein direktes Feedback der Bergsträßer zu erhalten.
Die frühere Erste Kreisbeigeordnete Diana Stolz ist nach der Landtagswahl als Ministerin in die Hessische Landesregierung gewechselt. Hätte Sie ein beruflicher Sprung nach Wiesbaden auch gereizt?
Engelhardt: Das ist so eine Was-Wäre-Wenn-Frage. Es wäre natürlich ein weiterer beruflicher Schritt. Aber letztendlich kann ich sagen: Ich fühle mich hier pudelwohl. Meine Aufgabe als Landrat macht mir wirklich Freude. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind vielseitig. Bei dem einen oder anderen Thema würde ich gerne mehr entscheiden können. Und ich bin in einigen Bereichen inzwischen jemand, der auch in ganz Deutschland nach seinen politischen Erfahrungen und Einschätzungen gefragt wird.
2027 sind die nächsten Landratswahlen. Werden Sie wieder antreten?
Engelhardt: Wenn sich die CDU dafür entscheidet, mich wieder aufzustellen, würde ich gerne erneut antreten.
Zur Person
Christian Engelhardt wurde am 1.10.1972 in Leonberg geboren .
Er ist verheiratet mit Daniela Engelhardt. Das Ehepaar hat zwei gemeinsame Töchter .
Nach dem Abitur in Marburg hat er Rechtswissenschaften studiert und mit dem zweiten Staatsexamen abgeschlossen. Vertiefend dazu studierte er BWL.
Vor seiner Zeit als Bergsträßer Landrat war er unter anderem Bürgermeister der Stadt Frankenberg und Direktor und geschäftsführender Direktor des hessischen Landkreistags .
Bei der Landratsdirektwahl am 19. April 2015 wurde Christian Engelhardt zum Landrat des Landkreises Bergstraße gewählt. In einer Stichwahl setzte er sich mit 53,9 Prozent gegen Gerald Kummer (SPD) durch. Amtsbeginn war am 16. September 2015.
Bei der Landratswahl am 14. März 2021 wurde er im ersten Wahlgang mit einem Stimmenanteil von 63,29 Prozent wiedergewählt . kel
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