Aktionstag

IAktionstag in Heppenheim zur Situation von Kindern aus suchtbelasteten Familien

Von 
Thomas Tritsch
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Man sollte nicht mit dem Finger auf suchtbelastete Familien zeigen, sondern ihnen die Hand reichen, rät Nikita Girard von der AWO Bergstraße. © Thomas Zelinger

Bergstraße. In Deutschland wachsen mindestens drei Millionen Kinder in einer suchtbelasteten Familie auf. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher geschätzt, weil zumeist eine verlässliche Datengrundlage fehlt. Experten gehen davon aus, dass mindestens jedes fünfte Kind in einem suchtbelasteten Umfeld lebt.

Der Fachbereich Suchthilfe und Prävention „Prisma“ der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bergstraße hat auf Grundlage dieser Daten berechnet, dass im Kreis Bergstraße rund 8620 Kinder in einem gefährdeten Umfeld leben. Davon sind 2366 jünger als sechs Jahre und 6254 im Alter von sechs bis 18 Jahren.

Die Zahlen beziehen sich auf die Angaben im Jahresbericht 2020 der Drogenbeauftragten im Bundesministerium für Gesundheit und der regionalen Zensus-Statistik von 2011. Bei dieser Erhebung wurden im Kreis Bergstraße 11 830 Kinder unter sechs Jahren und 31 270 Kinder zwischen sechs und 18 Jahren erfasst.

Eine Dimension, die Handlungsbedarf erfordert, so die stellvertretende Fachbereichsleiterin Nikita Girard von der Jugend- und Suchtberatung der AWO bei dem Aktionstag im Saalbau-Kino. Anlass war die 14. bundesweite Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien unter dem Motto „Vergessenen Kindern eine Stimme geben“.

Klischeefrei und differenziert

Im Kreis Bergstraße stand die Aktion unter dem Motto „Jetzt rede ich!“ – dazu hatte die Verwaltung gemeinsam mit der Fachstelle und Unterstützung der Sparkassenstiftung Starkenburg eingeladen. Ziel der Veranstaltung war, die Lebenswelt von Kindern, die in von Sucht betroffenen Familien leben, klischeefrei und differenziert darzustellen und neben harten Zahlen auch die emotionale Seite des Problems in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Mit mehr als 60 Teilnehmern, darunter Eltern, Lehrkräfte und Sozialarbeiter, war die Abendveranstaltung recht gut besucht. Am Morgen kamen am gleichen Ort Schüler aus dem Starkenburg-Gymnasium, der Martin-Buber-Schule sowie der Bensheimer Kirchbergschule zusammen, um in einem nicht-öffentlichen Teil über das Thema zu diskutieren.

Für Nikita Girard ist eine Enttabuisierung ein elementares Ziel, um auch Kinder und Jugendliche besser zu erreichen. Denn die Aktion soll Betroffenen Mut machen, ihre Situation mitzuteilen und sich vor Ort professionelle Hilfe zu suchen. „Wir müssen diesem Thema seine Schwere nehmen“, sagte die Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin.

Dazu gehöre auch, dass suchtbelastete Familien nicht stigmatisiert würden. Man dürfe nicht mit dem Finger auf sie zeigen, sondern müsse ihnen die Hand reichen, so Girard weiter. Dabei spiele es keine Rolle, ob es sich um Alkohol, Medikamente, Glücksspiel oder andere – stoffliche oder nicht-stoffliche) – Suchtformen handele. „Wir gehen davon aus, dass auch konsumierende Eltern nur das Beste für ihr Kind wollen“, betonte sie. Somit übernehme „Prisma“ eine Perspektive, die nicht ausgrenzt, sondern integriert – die nicht die Sucht in den Vordergrund stellt, sondern den Menschen mit seinem individuellen Abhängigkeitsproblem, das es zu überwinden gilt. Es gehe darum, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und gegenüber Eltern eine wertschätzende Haltung einzunehmen.

Mehrfachem Risiko ausgesetzt

Junge Menschen, die in einem familiär belasteten Umfeld aufwachsen, seien neben psychischer oftmals auch körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Sie zeigten ein höheres Risiko für eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie für Angststörungen und Depressionen, sagte Girard. Zudem gelten sie als Hochrisikogruppe für die Entwicklung einer eigenen Suchterkrankung. Von der Statistik beeindruckt zeigte sich auch der ehrenamtliche Kreisbeigeordnete und langjährige Schulleiter Philipp-Otto Vock, der in Vertretung der Ersten Kreisbeigeordneten Diana Stolz in den Saalbau gekommen war. In ihrem Grußwort forderte Stolz eine Entstigmatisierung des Themas. Der Kreis Bergstraße sei im Bereich der Prävention und Suchthilfe gut positioniert, hieß es weiter.

Das bestätigte auch Sebastian Parker, Geschäftsführer des AWO-Kreisverbands Bergstraße. Er plädierte für eine ausreichende Finanzierung von Dienstleistungen und Angeboten im sozialen Bereich, damit das Angebot sichergestellt wird und die Beschäftigten ihre Arbeit professionell erbringen können.

Anschließend wurde im Kino der szenische Kurzfilm „Zoey“ gezeigt. Darin geht es um ein 14-jähriges Mädchen, das mit dem Rückfall ihres alkoholkranken Vaters konfrontiert wird. Der Alltag des Teenagers gerät ins Wanken und Zoey muss Verantwortung für ihren Vater, ihren achtjährigen Bruder und sich selbst übernehmen. Der Film, der für Selbsthilfegruppen produziert wurde, erzählt von der Lebenswelt, den Problemen und Herausforderungen von Kindern in suchtbelasteten Familien. Danach hatten Schüler der siebten und achten Klassen Gelegenheit, sich mit pädagogischen Fachkräften über den Film auszutauschen. Im Dialog mit der Beratungsstelle konnte man sich über Hilfsmöglichkeiten informieren.

Im Nachgang wurde ein neu konzipierter Workshop für Schulen angeboten. Auf dem Podium beleuchtete ein Publikumsgespräch nochmals die zentralen Botschaften des Tages. Im Foyer luden Informationsstände der Wohngemeinschaft Bergstraße, der Erziehungsberatungsstelle des Kreises Bergstraße und von „Prisma“ zur vertiefenden Beschäftigung mit dem Themenkomplex ein.

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