Integration - Ehrenamtliche Integrationsbegleiterinnen über ihre Erfahrungen / Auch der Kreis Bergstraße und der Bensheimer Integrationsbeauftragte haben sich geäußert

Gibt es Geflüchtete erster und zweiter Klasse an der Bergstraße?

Von 
Sina Roth
Lesedauer: 

Bergstraße. Gibt es an der Bergstraße Geflüchtete erster und zweiter Klasse? Mit dieser Frage haben sich Karin Bormann und Ulrike Schepp, beide ehrenamtliche Integrationsbegleiterinnen in Bensheim an diese Zeitung gewandt.

„Seit 2015 bin ich ehrenamtlich in der Begleitung von Geflüchteten tätig“, berichtet Bormann. „Leider sieht man in letzter Zeit, dass sich unter ihnen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entwickelt. Besser gesagt: Wir selbst gestalten diese beiden Klassen.“ Demnach gebe es Flüchtlinge erster Klasse, „das sind seit ein paar Monaten Menschen, die aus der Ukraine kommen“, so Schepp. „Und es gibt Geflüchtete zweiter Klasse. Das sind alle anderen.“

Unter den Geflüchteten zweiter Klasse sind mittlerweile viele Menschen, die sich bestens integriert haben, das wissen die beiden Frauen aus ihrer Arbeit mit Geflüchteten. „Sie sprechen unsere Sprache, haben Arbeit haben und wenn sie Glück hatten, sogar eine Wohnung“, berichtet Bormann. Doch noch immer seien viele von ihnen nach wie vor verzweifelt auf der Suche nach einer passenden Wohnung oder warten schon jahrelang auf einen Integrationskurs. „Zum Beispiel sucht eine vierköpfige Familie aus gesundheitlichen Gründen schon lange vergeblich nach einer anderen Unterkunft. Eine dreiköpfige Familie musste jahrelang in einer Ein-Zimmer-Wohnung leben. Sogar dann noch, nachdem sie ihren Lebensunterhalt komplett selbständig bestritten haben, hatten sie bis vor kurzem keine Genehmigung bekommen, sich eine andere Wohnung zu suchen“, weiß Bormann von den Familien.

„Beispiele dieser Art kann jeder Ehrenamtliche benennen. Jetzt kommen die Flüchtlinge erster Klasse. Für sie gibt es besondere Angebote. Besondere Sprachkurse. Besondere Angebote zum Treffen und Austauschen. Wohnungen! Da kann ich unsere bisherigen Geflüchteten verstehen, wenn sie sagen: Die Ukrainer bekommen alles und wir nichts.“ Natürlich sei das so nicht richtig, betont sie, „und wir versuchen, bei jeder Gelegenheit diese Ansicht gerade zu rücken.“

Missverständnissen vorbeugen

„Die Angebote in unseren Gruppen und bei unseren Projekten sind für alle gleichermaßen da. Egal, ob die Menschen aus Afghanistan, Syrien, Italien, der Türkei oder dem Iran kommen. Und auch egal, ob sie aus der Ukraine oder aus Russland kommen. Auch haben wir schon Ukrainer mit Russen zusammengebracht – und alle hatten viel Spaß. Mit allen zusammen haben wir schon viele schöne Stunden verbracht.“

Um Missverständnissen vorzubeugen, betonen die beiden Frauen: „Wir haben nichts gegen die Menschen aus der Ukraine. Auch wir spenden regelmäßig für Hilfstransporte oder Geld für konkrete Hilfen. Wir haben teilweise mit Armbinden genäht und gehen regelmäßig zu Treffen, um dort zu unterstützen. Es entwickeln sich private Kontakte. Aber wir dürfen die Menschen aus allen anderen Ländern, die bei uns Schutz gesucht haben, nicht vergessen.“ In den vergangenen Jahren seien sie pandemiebedingt „hinten runtergefallen“.

„Auch wir Ehrenamtlichen erfuhren nur noch selten Unterstützung von hauptamtlicher Seite. Manche von uns haben sich mit viel Fantasie und Engagement über die Zeit gerettet. Andere haben mehr oder weniger aufgegeben. Jetzt droht das gleiche Szenario wieder. Das kann und darf nicht passieren!“

Auch der Kreis Bergstraße hat sich zu diesem Thema auf Anfrage dieser Zeitung zu Wort gemeldet. „Aktuell besteht eine gewisse Ungleichbehandlung der geflüchteten Menschen, die nach Deutschland beziehungsweise in den Kreis Bergstraße kommen“, bestätigt Pressesprecherin Cornelia von Poser. „Hintergrund ist der sogenannte Rechtskreiswechsel, den aus der Ukraine geflüchtete Menschen vornehmen konnten und noch können“, so von Poser. „Die von Bund und Ländern verabschiedeten Vorgaben sind für die Bergsträßer Kreisverwaltung bindend und werden aktuell umgesetzt“, heißt es vonseiten der Pressestelle.

„Dennoch möchten wir betonen, dass das Wohl aller im Kreis lebenden geflüchteten Menschen und deren Integration im Mittelpunkt der Arbeit der zuständigen Fachabteilung stehen. Gleiches gilt für die Arbeit der Stabsstelle Integrationsbeauftragte des Kreises.“

Manfred Forell, Integrationsbeauftragter der Stadt Bensheim, hat sich ebenfalls zu dem Thema geäußert: „Verbunden damit ist die Grundsatzfrage, wie wir es mit den zentralen Werten des Grundgesetzes, der Würde des Menschen und der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz halten. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die „ungleiche Behandlung von Flüchtlingen in Deutschland“ kritisiert“, so Forell.

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wechseln schneller in den Sozialleistungsbezug und haben zügiger Zugang zum Arbeitsmarkt, erklärt er. „Grund dafür ist die Umsetzung einer neuen EU-Richtlinie zur schnellen und unbürokratischen Flüchtlingsaufnahme durch die Bundesregierung.“ Klar sei, dass sich amtliche Stellen nach diese neuen Bestimmungen richten müssen. „Auch für Geflüchtete aus allen anderen Ländern stellt die Bundesregierung Verbesserungen in Aussicht: das sogenannte Chancen-Bleiberecht für langjährig Geduldete, die ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und Verbesserungen beim Familiennachzug. Würden diese Pläne umgesetzt, wäre vielen Geflüchteten spürbar geholfen“, betont Forell.

Probleme mit der Wohnungssuche

„Es ist tatsächlich so, dass es viele private Wohnungsangebote speziell für ukrainische Kriegsflüchtlinge gab, während beispielsweise Menschen aus Afghanistan, Syrien, Somalia trotz Sprachkenntnissen und Arbeitsplatz lange in ihren Unterkünften bleiben müssen, weil sie, auch bei intensivster Suche und Unterstützung von Integrationshelfern keine Wohnung finden können.“ Dabei sei das Wohnungsangebot allerdings keine Frage staatlicher Regulierung, betont der Integrationsbeauftragte. Jeder Anbieter entscheide selbst, wer letztlich die Wohnung bekommt.

Eine zweite Heimat finden

„Pandemiebedingt gab es für die amtlichen Hilfen und Ämter Auflagen. So durften beispielsweise Integrationslotsen der Stadt Bensheim ihre Sprechstunden in Schulen nicht mehr anbieten. ’Hinten runtergefallen’ sind Geflüchtete aus meiner Sicht allerdings nicht.“ Telefonberatung und persönliche Termine im Rathaus seien trotzdem möglich gewesen.

„Die Mitarbeiter im Integrationsbüro der Stadt Bensheim wissen den Einsatz der ehrenamtlichen Helfer zu schätzen und stehen ihnen jederzeit gerne helfend zur Seite“, so Forell. „Integration ist keine Einbahnstraße, es gilt nicht nur Forderungen an die Geflüchteten zu stellen. Auch die Aufnahmegesellschaft muss ihre Bereitschaft zeigen, das vermeintlich Fremde als mögliche Bereicherung und nicht als Bedrohung zu sehen.“

Die ehrenamtlichen Helfer unterscheiden nicht nach Herkunft, wem sie helfen, wie Forell betont. „Viel mehr machen das aber schon eher diejenigen, die ohnehin nicht helfen. „Allen, die sich für Geflüchtete einsetzen, damit sie in Bensheim eine zweite Heimat finden und ihnen helfen, ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben zu führen, ein herzliches Dankeschön“, betonte der Integrationsbeauftragte.

Redaktion

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger