Heimat - Die „handwerkliche Apfelweinkultur“ ist jetzt Immaterielles Kulturerbe der Unesco

Flüssiges Gold aus dem Bembel

Von 
Wolfgang Arnold
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Bergstraße. Er ist ein Stück Odenwälder Identität, ebenso wie der „ourewällische“ Dialekt oder Koch- und Brennkees mit „Mussig“: der Apfelwein; besser gesagt: der Ebbelwoi. Für einen Odenwälder gibt es kaum einen schöneren Gang als diesen zum Fass, um sich zum Feierabend den Bembel aufzufüllen und das selbst gekelterte Getränk stilecht in einem „Gerippten“ zu genießen. Da hat selbst Petrus das Nachsehen: „Bei uns scheint die Sonne aus dem Glas“, meinte einst ein Genießer beim Blick auf die goldgelbe Gaumenfreude.

Seit Kurzem gehört das Odenwälder Nationalgetränk zum „Immateriellen Kulturerbe“ der Unesco (siehe nebenstehenden Artikel). Wobei es nicht um den Apfelwein – pardon: Ebbelwoi an sich geht, sondern um die spezielle Kultur, die sich im Hessischen mit diesem Getränk verbindet: das Lesen der Früchte auf den Streuobstwiesen, das traditionelle Keltern, die unverzichtbaren Accessoires wie der Bembel oder das gerippte Glas. Eine Kultur, die auch im Kreis Bergstraße von etlichen Menschen noch gelebt wird und bei der beileibe nicht nur der abschließende Genuss im Fokus steht.

„Ein Stück Heimat“

Eine große Gruppe dieser Menschen trifft sich seit über 30 Jahren regelmäßig, um im Weschnitztal den „Ebbelwoikönisch“ zu wählen. Seit etwa einer Dekade findet diese Zusammenkunft von bis zu 20 Hobbykelterern bei der Familie Schaab in der Mitlechterner Dorfschänke statt – zuletzt 2019. Verkostung und Prämierung sind jeweils eine große Gaudi – eine gute Note für seinen Ebbelwoi möchte dennoch jeder Teilnehmer einheimsen.

Hilde Guthier weiß, dass dies kein Selbstläufer ist: „Ich war schon mal Königin – und auch schon mal Letzte“, berichtet sie. Die 57-Jährige ist mit der Odenwälder Ebbelwoikultur aufgewachsen. Im landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern in Hambach reiften die Früchte der eigenen Streuobstwiesen im großen Gewölbekeller unter der Scheune zu Ebbelwoi heran. Damals noch in Holzfässern, wie sie im Gespräch berichtet.

„Es gibt kein besseres Getränk im Sommer als einen Sauergespritzten“, sagt sie. Sauergespritzter? Im Odenwald weiß man: Dabei handelt es sich um einen Mix aus Ebbelwoi und Sprudelwasser. Die einzige Vermengung des Nationalgetränks übrigens, die uneingeschränkt akzeptiert wird.

Wie sehr einem die Odenwälder Apfelweinkultur fehlen kann, merkt man erst in der Fremde. So ging es auch Hilde Guthier, die einige Jahre im Schwäbischen lebte. „Es ist einfach ein Stück Heimat, das fehlt“, hat sie erfahren. Und so hat sie nach der Rückkehr in den Odenwald wieder damit begonnen, selbst zu keltern. Aber nicht nur das: Hilde Guthier lebt die Apfelweinkultur mit ganzem Herzen: „In einer Odenwälder Wirtschaft würde ich nie etwas anderes zum Koch- oder Handkees bestellen.“ Und dazu gehören zwingend auch Bembel und Geripptes – „alles andere wäre ja ein Sakrileg“, lacht sie.

Hilde Guthier weiß aber auch, dass vor dem Spaß und dem Genuss harte Arbeit steht. Allein die Pflege der Obstbäume ist eine Aufgabe, die sich durch das ganze Jahr zieht. Unter anderem in Schnittkursen hat sie sich das nötige Wissen angeeignet.

Gemeinsame Apfellese

Bei der Weitergabe der Apfelweinkultur ist es also auch ein Aspekt, dass Lebensmittel nicht von allein auf dem Tisch landen, sondern hinter deren Erzeugung Wissen, Arbeit und Mühe stecken. Da stimmt auch Dagmar Zeiß aus Fürth zu. Sie gehört einem Freundeskreis aus mehreren Familien an, welche die gemeinsame Apfellese im Herbst zu einem besonderen Ereignis machen. Bis zu 30 Erwachsene und Kinder sind dann einen Tag lang unterwegs, um das Obst zu lesen, zur Kelterei zu bringen und den selbst „erarbeiteten“ Saft zu genießen. „Die Kinder haben den Tag über viel Freude und erleben dabei auch den gesamten Herstellungsprozess“, erklärt Dagmar Zeiß.

Für die Erwachsenen bedeutet dieser gemeinsame Apfellesetag den Erhalt einer Tradition, die sie selbst zum Teil schon als Kinder erlebt haben. Das beginnt bereits mit der Planung, die neben der Logistik auch die nötige „Stärkung“ beinhaltet: Wurst, Brot, Kuchen, Getränke und auch Süßigkeiten für die kleinen Apfelleser sind an Bord, wenn es mit Bulldog und Hänger auf die Obstwiesen geht.

Tipps fürs Keltern

Sechs bis sieben Familien sind dann zwischen den Bäumen mit Körben unterwegs, schlagen und lesen die Früchte. Aufgelockert wird die Arbeit durch ein Picknick mit gegrillten Würsten. Nach getaner Arbeit werden die Äpfel zur Kelterei gebracht, wo der frisch gepresste Saft gekostet, abgefüllt und mit nach Hause genommen wird. „Alle sind durchgefroren und müde – aber glücklich. Und dann geht es zum gemeinsamen Abschluss in eine Wirtschaft“, berichtet Dagmar Zeiß.

Dass dabei nicht nur „die Großen“ ihre Freude haben, das erfährt die Fürtherin aus den Rückmeldungen der Kinder. „Das ist ein tolles Erlebnis mit den Leuten, die ich mag. Wir können über Zäune klettern und Blödsinn machen“, zitiert sie. Oder: „Alle sind zusammen, wir Kinder spielen und wir lesen Äpfel – und gehen dann in die Wirtschaft.“ Ein Tag „Abenteuer Natur“ also für die Kleinen, wie es Dagmar Zeiß ausdrückt. Aber auch eine Erfahrung für die Erwachsenen: „Das gemeinsame Anpacken ,erdet‘ alle Beteiligten“, formuliert sie es. Nicht nur den fertigen Ebbelwoi genießt man später auf eine ganz andere Art.

Aber was ist das Geheimnis hinter einem guten, selbst gekelterten Ebbelwoi? Hilde Guthier gibt ein paar Tipps: „Der Apfel sollte möglichst noch die Oktobersonne genießen – wenn das von der Sorte her möglich ist“, grenzt sie den Zeitraum der Lese ein. Und von diesen unterschiedlichen Sorten sollten möglichst viele in die Kelter kommen, „je mehr, umso besser“. Denn die Mischung aus süßen und säurehaltigeren Äpfeln erbringe einen ausgewogenen Ebbelwoi. In den Fässern sollte dieser dann – nicht nur während des Gärprozesses – ganzjährig bei gleichen Temperaturen lagern.

„Das ganze Prozedere, beginnend beim gemeinsamen Lesen, ist etwas Besonderes“, sagt auch sie. Vor Weihnachten, so lautet eine weitere Faustregel, soll der neue Ebbelwoi nicht angestochen werden. Der beliebte heiße Apfelwein – pardon: haaße Ebbelwoi, im Winter ein Wundermittel gegen Erkältungen aller Art, stammt also noch vom vorherigen Jahrgang.

Der besondere Moment

Im Frühjahr kommt dann der große Moment: „Das ist ein besonderer Augenblick, wenn der Ebbelwoi angestochen und probiert wird, ob er gelungen ist“, beschreibt Hilde Guthier. „Ebbelwoikönisch“ oder hinterer Rang – darüber entscheiden die „Kollegen“ beim Ebbelwoi-Contest. Alle Beteiligten hoffen, dass dieser 2023 wieder ausgetragen werden kann. Denn: „2022 ist ein gutes Apfeljahr“, sagt Hilde Guthier voraus. Eine gute Nachricht für die Odenwälder Kultur.

Infos und Geschichte

Apfelwein ist ein Fruchtwein, der aus einer Mischung verschiedener, relativ säurehaltiger Äpfel gekeltert und alkoholisch vergoren wird. Der natürliche Alkoholgehalt beträgt meist 5 bis 7 Volumenprozent.

Je nach verwendeten Apfelsorten muss der Geschmack nicht notwendigerweise herb oder sauer empfunden werden.

Schon die Griechen und Römer kannten die Herstellung des Apfelweines. Auch ist belegt, dass die Germanen, bereits bevor die Römer kamen, sich in der Herstellung des Obstweines auskannten.

In Frankfurt ist der Apfelwein um das Jahr 1600 nachgewiesen. Bereits 1638 wurde per Ratsverordnung eine Reinhaltungsbestimmung festgelegt, an die sich die Apfelweinkelterer noch heute halten müssen.

1754 wurde die erste Schankerlaubnis in Frankfurt erteilt, seit diesem Zeitpunkt wurde das Getränk auch versteuert.

Damals war der Apfelwein ein schlichtes Alltagsgetränk, das die kleinen Leute im Hauskeller gären ließen.

Als preisgünstiger Ersatz zum „edlen Tropfen“ wurde Apfelwein vor allem durch die in den 1860er-Jahren in Europa einsetzende Reblausplage populär. Viele der verödeten Rebflächen wurden fortan als Obstgärten genutzt.

Lebensmittelrechtlich gehört Apfelwein sowie die anderen Gärprodukte des Apfelsüßmostes (Apfel-Perlwein, Apfelschaumwein, Sidre etc.) in die Kategorie der „weinähnlichen Getränke“.

Quelle: Wikipedia

Wiesen, Bembel und Gerippte

Seit dem 9. März steht die „handwerkliche Apfelweinkultur“ im bundesweiten Verzeichnis des „Immateriellen Kulturerbes“. Das haben die Kulturministerkonferenz und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien beschlossen. Die Kultur- und Bildungsabteilung der Vereinten NationenUnesco – hat 2003 diese Auszeichnung eingeführt für kulturelle Ausdrucksformen, „die von menschlichem Wissen und Können getragen und von Generation zu Generation weitervermittelt werden“.

Geschützt und erhalten werden soll somit nicht nur der Apfelwein an sich, sondern alles, was zu dessen gelungener Produktion und stilechtem Konsum beiträgt: Streuobstwiesen, Keltergemeinschaften, Bembel oder die speziellen gerippten Gläser beispielsweise. Von einem „Kulturerbe, das von Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte fortwährend neu gestaltet wird“, ist vonseiten der Deutschen Unesco-Kommission die Rede.

„Von der Streuobstwiese, die als ökologisch wertvoller Lebensraum die Landschaft prägt, über die traditionelle Herstellung des Apfelweins – bis heute vorwiegend in Familienbetrieben oder Keltergemeinschaften – bis zu Gaststätten und Festen ist die Apfelweinkultur seit Jahrhunderten ein wichtiges Element hessischer Identität“, erklärte Kunst- und Kulturministerin Angela Dorn (Grüne) aus Anlass des Eintrags in die Kulturerbe-Liste.

Und weiter: „Apfelwein bedeutet auch heute Gemeinschaft: Engagierte Menschen pflegen Obstbaumbestände, keltern gemeinsam und feiern Apfelweinfeste. Vereine, Verbände und Streuobstinitiativen geben diese Kultur weiter – vom Wissen um alte Obstsorten und Keltertechniken bis zu Verkostungen, Wettbewerben und geschmacklichen Experimenten.“ arn/ü

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