Viernheim. Wenn immer Bürgerinnen und Bürger sich mit der Ansiedlung einer Flüchtlingsunterkunft in ihrem Wohnumfeld konfrontiert sehen, äußern sie gegenüber den Verantwortlichen der Stadt ihre Furcht vor sozialen Spannungen oder gar Übergriffen. Die Vertreter der Stadt Viernheim sagen postwendend zuerst und wahrheitsgemäß, sie seien zur Unterbringung der Menschen gezwungen. Dann verweisen sie darauf, dass die Johanniter in den städtischen Unterkünften nach dem Rechten sähen und sich um die Leute kümmerten. Grund genug, mit den Johannitern über diesen Dienst zu sprechen.
Es soll sich herausstellen, dass wir kaum einen besseren Gesprächspartner als Ernst Hübert von den Johannitern für dieses Gespräch hätten finden können. Doch bevor der Viernheimer Weg bei der Betreuung von Flüchtlingen und ihren Unterkünften erörtert wird, ist über den Dreifachmord von Solingen und über den Polizistenmord von Mannheim zu sprechen.
„Staat ist an der Grenze zum Kontrollverlust“
Matthias Schimpf (Grüne) ist als Erster Kreisbeigeordneter für das Management der Unterbringung von Flüchtlingen zuständig. Auf die Frage, ob es sich überhaupt bemerken ließe, wenn sich ein Flüchtling radikalisiert, sagt er: „Das ist ja das große Problem: Weder der Mörder des Polizisten in Mannheim, der zuletzt in Heppenheim untergebracht war, noch der Täter von Solingen waren zuvor auffällig geworden, schon gar nicht relevant für die Polizei. Wir können einem Menschen nicht in den Kopf schauen – und wenn er sich ruhig verhält, bekommt niemand seine mögliche Radikalisierung mit. Er bleibt unentdeckt – bis zu einer möglichen Tat.“ Schimpf verurteilt die Sippenhaft, in die Flüchtlinge nach solchen Ereignissen reflexartig genommen werden. Dennoch nimmt der Mann, der sich selbst als konservativen Grünen einordnet, kein Blatt vor den Mund, wenn es um Verantwortlichkeit geht: „In der Frage der Zuwanderung versagt nicht nur die aktuelle Bundesregierung, andere Regierungen vor ihr haben genau so versagt.“
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Begrenzung, Kontrolle, Rückführung? Fehlanzeige, so Schimpf. Eine klare Linie im Umgang mit der Zuwanderung sei absolut nicht erkennbar. Auf Taten wie in Mannheim oder Solingen folge politische Hysterie. Nun über Waffenverbotszonen oder die Länge von Messerklingen zu diskutieren, sei das Herumwursteln an Symptomen – völlig ungeeignet als Antwort auf die Realität. „Sagen Sie mir, wer bei der Kerwe in Viernheim diese Kontrollen stemmen soll. Es sind weder die Leute dafür da, noch haben Stadt oder Vereine das Geld, sie zu bezahlen.“
Der zuvor völlig unauffällige Polizistenmörder von Mannheim sei als unbegleiteter Jugendlicher aufgenommen und sehr gut betreut worden. Er habe Deutsch gelernt und angepasst gelebt. „Seine Radikalisierung, sein Verbrechen hat niemand erahnen können. Das ist unmöglich.“
Auch wenn er sich gegen Sippenhaft stemme, verstehe er die Ängste der Menschen, sagt der Kreisbeigeordnete. „Sie verlangen vollkommen zu Recht die Handlungsfähigkeit ihres Staates. Aber dieser Staat befindet sich an der Grenze zum Kontrollverlust.“ Pro Woche kämen im Schnitt 35 Flüchtlinge im Kreis an, die der auf seine Kommunen verteile. Das könnten weder die Städte und Gemeinden noch die Gesellschaft länger stemmen.
Mal heiße es in Berlin, nach Afghanistan könne abgeschoben werden. Dann heiße es, nein, es sei zu gefährlich dort. Schimpf: „Wir wissen doch, dass Afghanen, die hier Schutz genießen, über den Iran in die Heimat reisen, um Urlaub bei ihren Familien zu machen und dann zurückzukommen. Das kann doch nicht sein.“ Für ihn gebe es zwei Gründe für Aufnahme, so Schimpf: Schutz oder Arbeitsmigration, dazwischen gebe es nichts. Wer dazwischen sei und hier ankomme, müsse zurück.
Hilfe beim Ankommen im deutschen System
Von der Ohnmacht in Berlin und Brüssel zurück nach Viernheim. Hier wird das geschultert, was eigentlich nicht zu schultern ist. Neben Sozialamtsleiter Rudolf Haas in dessen Büro im alten Rathaus sitzt Ernst Hübert. Er leitet das sechsköpfige Team der Johanniter, das sich um die bisher zwei städtischen Unterkünfte kümmert, zwei weitere sind beschlossen.
Hübert, kein Sanitäter, sondern Student der Informatik an der Fernuni Hagen, erklärt, von 9 bis 17 Uhr, Montag bis Freitag, sei immer ein Kollege oder eine Kollegein von ihm in den Unterkünften der Stadt – Lilienthalstraße und Industriestraße – anwesend. Sie hülfen den Menschen beim Ankommen im System, bei Behörden-Angelegenheiten, aber auch bei persönlichen und kulturellen Fragen. Hilfe zur Selbsthilfe sei das Credo. Aber die Johanniter sähen auch nach dem Rechten. So seien die Bewohner verpflichtet zu reinigen. Und wer dem nicht nachkomme, würde daran erinnert – in der Regel mit Erfolg.
Auf die Frage, wie die Atmosphäre, die Stimmung unter den Menschen und der Umgang mit ihnen sei: „Freundschaftlich und friedlich.“ Auf den Vorhalt bei einer Anwohnerversammlung zur kommenden Unterkunft am TiB, die Johanniter seien kein Sicherheitsdienst, sagte Viernheims Bürgermeister Matthias Baaß nicht zum ersten Mal, man wolle die Menschen nicht bewachen, sondern begleiten und ihnen helfen, sich zu integrieren.
Schlechte Erfahrungen als Security-Mann
Ernst Hübert hat hierzu etwas zu sagen. Er ist jetzt sein einem Jahr bei den Johannitern, zuvor hat er vier Jahre lang für einen Sicherheitsdienst in Unterkünften außerhalb Viernheims gejobbt. „Da waren wir, die Bewohner und wir von der Security, Feinde. Die Leute haben uns argwöhnisch beäugt, wir waren eine Bedrohung für sie. Es gab mehrfach auch sehr heikle Situationen. Jetzt, als Betreuer von den Johannitern, werden wir freundlich, manchmal mit Handschlag begrüßt. Man respektiert sich auf Augenhöhe. Und die Leute sind dankbar für unsere Hilfe.“ Hübert berichtet von einem jungen Syrer, der sich zuerst sehr hitzköpfig gegeben hat. „Ich dachte, der bleibt ein Problemkind. Aber nein, er hat mit sich reden lassen, und er hat sich gefangen.“ Rudolf Haas vom Sozialamt ist in Viernheim für die Unterbringung der vom Kreis Bergstraße zugewiesenen Zuwanderer zuständig. Er berichtet von einer 21-jährigen Somalierin, die sehr schnell Deutsch gelernt und gleich einen Hauptschulabschluss hingelegt habe. Nun mache sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin.
An solch positiven persönlichen Entwicklungen mangelt es nicht. Und doch ist Rudolf Haas anzumerken, dass er mit einer Ohnmacht kämpft: „Wo sollen wir die Leute noch unterbringen, wie werden wir deren Bedürfnissen in dieser Vielzahl gerecht, wo sollen diese vielen Menschen hier im Ballungsraum einmal wohnen?“, fragt er rhetorisch. /ü
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