Zeitgeschichte - Ein neuer Film erzählt die Geschichte einer Schulklasse, die aus der DDR in den Westen floh / Er basiert auf dem Buch „Das schweigende Klassenzimmer“ von Dietrich Garstka

Flucht vor dem SED-Regime endete in Bensheim

Von 
Konrad Bülow
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Bergstraße. Auf die Frage, was ihm als erstes in den Sinn kommt, wenn er an seine Flucht aus der DDR im Jahre 1956 nach Westberlin denkt, antwortet Dietrich Garstka: „Die Angst.“ Die Berliner Mauer stand damals noch nicht. Trotzdem fürchtete der damals 17-Jährige, im Zug Richtung Westen von den Sicherheitsbehörden des kommunistischen Staats aufgegriffen zu werden. „Das hat sich schon ziemlich eingeprägt“, sagt er heute.

Garstka wurde nicht verhaftet, bald darauf sollte er in Bensheim eine vorübergehende Heimat finden. Geflohen war er, weil er zusammen mit seinen Mitschülern in der Kurt-Steffelbauer-Schule im brandenburgischen Storkow eine Schweigeminute eingelegt hatte. Sie galt den Toten des Volksaufstands in Ungarn, den sowjetische Truppen gewaltsam niedergeschlagen hatten. Die DDR-Führung reagierte mit aller Härte auf diesen Akt jugendlichen Protests. Der Volksbildungsminister drohte, die gesamte Klasse vom Abitur auszuschließen. 16 von ihnen kehrten deshalb dem „Land des real existierenden Sozialismus“, wie sich der SED-Stadt selbst nannte, den Rücken.

Dietrich Garstka war der Erste

Garstka war der Erste von ihnen. Jahrzehnte später schrieb er das Buch „Das schweigende Klassenzimmer“, in dem er die Geschehnisse schildert, die vor 60 Jahren zur Flucht der Schüler führten. Vergangene Woche kam ein Film in die Kinos, der sich an dem Werk orientiert.

Schnell war klar, dass die Jugendlichen nicht in Westberlin bleiben würden, wo sie zunächst in einem Flüchtlingsheim lebten. „Das war uns zu gefährlich“, sagt Garstka. Er und seine Mitstreiter hätten so nahe an der Grenze zur DDR in der Angst vor einem Zugriff durch die Schergen des SED-Regimes gelebt. Deshalb wollten sie noch weiter nach Westen.

Düsseldorf oder Bensheim

„Zur Wahl standen dann Düsseldorf und Bensheim“, erzählt der heute 79-Jährige, der mittlerweile in Essen lebt. Düsseldorf habe für die Schüler aber zu langweilig geklungen. Bensheim war ihnen ein Begriff: Ein Lehrer an ihrer alten Schule habe die Stadt gekannt und regelrecht von ihr geschwärmt.

Den ersten Eindruck von der Bergstraße beschreibt Garstka denn auch als „großartig“. Die jungen Rebellen hätten einen Wohlstand, eine Idylle und auch eine Infrastruktur vorgefunden, die sie aus dem Ostdeutschland dieser Zeit nicht kannten. „Besonders die vielen schönen, alten Häuser fielen uns auf“, sagt der Buchautor. Zwar habe es auch in Storkow alte Gebäude gegeben. „Die waren aber alle dabei zu verfallen“, erinnert er sich.

Die Schüler lebten zunächst im bischöflichen Konvikt in Bensheim, nach einigen Monaten folgte der Umzug in die Villa Orbishöhe in Zwingenberg. Am Bensheimer Aufbaugymnasium, das später mit der Rodensteinschule zur Geschwister-Scholl-Schule wurde, machten die Flüchtlinge ihr Abitur. Dabei betreute sie der Lehrer Gerhard Schwabenland. Zu ihren Bensheimer Altersgenossen hätten sie nicht allzu viel Kontakt gehabt, erinnert sich Garstka: „Wir sind eher unter uns geblieben.“ Nach ihrem Abitur verteilten sich die Schüler der Storkower Klasse auf die gesamte Bundesrepublik. In Bensheim sei keiner von ihnen geblieben, sagt Garstka.

Wiedervereinigung mit den Eltern

Er selbst ging nach Nordrhein-Westfalen, wo es zur Wiedervereinigung mit seinen Eltern kam, die ebenfalls die DDR verlassen hatten. Für Besuche kehrte der „Republikflüchtling“ öfters an die Bergstraße zurück – unter anderem, um Vorträge über sein Buch zu halten.

Der jetzt erschienene Film, der denselben Titel wie das Buch trägt, gibt Garstkas Ansicht nach die Ereignisse aus dem Jahr 1956 gut wieder. Mit Regisseur Lars Kraume arbeitete der frühere Storkower Schüler das Drehbuch durch – auch, weil Kraume selbst die DDR nicht kannte. „Das schweigende Klassenzimmer“ verdeutliche, wie stark die Atmosphäre in der DDR der fünfziger Jahre von Autorität geprägt war.

Dies gelinge, obwohl sich das Werk von Kraume einige dramaturgische Freiheiten nimmt. Storkow heißt im Film Stalinstadt. Handlungen und Charakterzüge der historischen Personen werden auf verschiedene Filmrollen verteilt. „Das haben die anderen, die damals dabei waren, so gewollt, ich selbst auch“, erklärt der Buchautor. So werde auch vermieden, dass sich jemand falsch dargestellt fühlt. Er selbst finde sich in unter anderem in den beiden männlichen Hauptrollen, den Schülern Theo und Kurt, wieder.

Ein weiterer Unterschied zu den tatsächlichen Ereignissen: Im Film wird Kurt auf der Zugfahrt nach Westberlin von den Behörden der DDR erwischt, erst später gelingt ihm und den anderen Schülern die eigentliche Flucht.

Dietrich Garstka ist damals – anders als der Filmfigur Kurt – eine Festnahme erspart geblieben. Dennoch: „Der Geist meines Buches wird in dem Film gut getroffen“, lautet die Einschätzung des Zeitzeugen.

Abitur in Bensheim

Dietrich Garstka wurde 1939 in Berlin geboren. Vor seiner Flucht aus der DDR infolge des Konflikts mit dem Staatsapparat hatte er hin und wieder Verwandte in der Bundesrepublik besucht – die Berliner Mauer wurde erst 1961 errichtet. Bensheim lernte er erst kennen, als er dort mit seinen Klassenkameraden untergebracht wurde.

Nach seinem Abitur am Bensheimer Aufbaugymnasium studierte Garstka Germanistik, Soziologie und Geografie in Köln und Bochum. Später war er Gymnasiallehrer in Essen und Krefeld.

2006 veröffentlichte er das Buch „Das Schweigende Klassenzimmer“, das die Ereignisse um die Flucht der Storkower Klasse wiedergibt. Die Verfilmung von Lars Kraume läuft derzeit in den Kinos.

Heute ist Garstka Dozent an der Volkshochschule Essen. Sein Gesundheitszustand ist nach einer Herzoperation angegriffen und bessert sich nur langsam, weshalb er kein Vorwort für das neu aufgelegte Buch zum Film schreiben konnte – was sich aber seiner Ansicht nach verschmerzen lässt: „Das Buch kann gut für sich selbst stehen“, ist er überzeugt. kbw

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