Soziales

Femizide an der Bergstraße und die Entwicklung der Frauenhäuser

„Die Scham muss die Seite wechseln“: An der Bergstraße wurden innerhalb eines Jahres zwei Frauen Opfer eines Femizids. Über 100 Frauen mussten 2024 im Frauenhaus abgewiesen werden.

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Angela Schrödelsecker
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Hannah Esken, Tina Meier und Martina Evertz berichten darüber, welche Herausforderungen ihre Arbeit mit Frauen, die Gewalt erfahren, täglich mit sich bringen. © Thomas Neu

Bergstraße. Fast täglich wird in Deutschland eine Frau oder ein Mädchen getötet. Wie das Bundesinnenministerium mitteilt, verzeichneten die Behörden im Jahr 2023 360 sogenannte Femizide. An der Bergstraße gab es innerhalb eines Jahres zwei solcher Fälle. Ende 2024 tötete in Bensheim der getrennt lebende Ehemann seine Frau vor den Augen der Tochter. Vor kurzem fiel das Urteil: Der Täter erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Ende August soll ebenfalls ein Ehemann seine Frau in der gemeinsamen Wohnung in Heppenheim erstochen haben. Der Mann sitzt aktuell in Untersuchungshaft.

Das sind Taten, die die Menschen erschüttern und es stellt sich die Frage, wie man sie hätte verhindern können. Es gibt verschiedene Anlaufstellen, die Frauen unterstützen, die Gewalt erfahren müssen. Das ist zum einen die Polizei, die in einer akuten Gefahrensituation unter der bekannten Telefonnummer 110 erreichbar und zuständig ist, aber es gibt auch die Beratungs- und Interventionsstelle Bergstraße. Hannah Esken ist eine der beiden Mitarbeiterinnen. Sie, Tina Meier vom Frauenhaus Erbach und der dortigen Beratungs- und Interventionsstelle für Frauen in Gewalt- und Krisensituationen und die Vorsitzende des Frauenhauses Bergstraße e.V. Martina Evertz berichten im BA-Interview darüber, welche Herausforderungen ihre Arbeit täglich mit sich bringen. Und: Wie wichtig es ist, dass Frauen, die Gewalt erleben, professionelle – kostenlose – Hilfe von erfahrenen Experten erhalten. In den Beratungsstellen bekommen sie Informationen über alle ihnen zur Verfügung stehenden Hilfsangebote. Von Selbsthilfegruppen bis hin zu Frauenhäusern gibt es viele Möglichkeiten, die Frauen nutzen können, um ihr Leben zu verändern. Denn auch jede Situation ist individuell, betont Tina Meier: „Wir begleiten die Frauen bei einer Veränderung ihres von Gewalt geprägten Umfelds. Dabei fordern wir die Frauen übrigens nicht zur Trennung auf. Wenn sie das wünschen, helfen wir den Frauen dabei, auch erst mal Strategien zu entwickeln, um die Situation zu Hause zu verbessern. Eine Trennung ist ein Prozess. Wir müssen das dann auch mit aushalten. Es sei denn, es liegt eine Gefahr für die Kinder vor. Dann arbeiten wir ganz deutlich darauf hin, dass das Jugendamt eingeschaltet wird.“

Es gibt viele Formen der häuslichen Gewalt

Für viele Frauen steht aber zu Beginn dieses Prozesses der Veränderung erst mal die Frage: Erlebe ich überhaupt Gewalt? „Das Bewusstwerden ist tatsächlich der erste Schritt“, erklärt Esken und definiert die fünf Formen der häuslichen Gewalt: „Die physische Gewalt ist die Art, die auch nach Außen hin die sichtbarste Form ist. Dann gibt es die psychische Gewalt, die bei häuslicher Gewalt, soweit wir beobachten, immer eine Rolle spielt. Die dritte Form ist die finanzielle Gewalt, die häufig auftritt, wenn die Frau Kinder bekommt und Zuhause ist. Dann nutzen die Männer Geld als Machtinstrument. Die vierte Form ist die sexualisierte Gewalt. Das reicht von Vergewaltigung bis hin zum anderen Extrem – dem Sexentzug in Verbindung mit Beleidigungen. Die letzte Form ist die soziale Gewalt, also die soziale Isolation. Die hat das Ziel, dass die Frau keine Unterstützung mehr von Außen erhält und als einzigen Orientierungspunkt den Mann, also den Täter, hat.“ Und Meier ergänzt: „Das ist dann das Perfide. Die Frau zweifelt immer mehr an ihrer eigenen Einschätzung und ihren Gefühlen. Viele Frauen sind sich gar nicht bewusst, dass sie Gewalt erfahren – sie denken, mein Mann schlägt mich ja gar nicht.“

Hilfsangebote für Opfer von häuslicher Gewalt

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 116 016 (365 Tage im Jahr, rund um die Uhr kostenfrei erreichbar, Beratung in 18 Sprachen), www. Hilfetelefon.de

Frauenhauskoordinierung e. V.: www.fh-suche.de

Frauenhaus Bergstraße: 06251 - 78388, kontakt@frauenhaus-bergstrasse.de

Beratungs- und Interventionsstelle Bergstraße Häusliche Gewalt gegen Frauen: 06251 - 67495, kontakt@frauenberatung-bergstrasse.de

Frauenhaus Erbach: 06062 – 5646, info@frauenhaus-erbach.de

Beratungs- und Interventionsstelle für Frauen in Gewalt- und Krisensituationen: 06062 – 266874, info@frauenberatung-erbach.de, online.frauenberatung- erbach.de

Martina Evertz berichtet, welche Entwicklung die Frauen dann in den Frauenhäusern durchleben: „Die Frauen kommen bei uns an, sie sind beladen und ganz verzweifelt. Nach drei oder vier Monaten gehen und stehen sie ganz anders. Das macht auch was mit unseren Mitarbeiterinnen, die sich auch deshalb für diesen Beruf entscheiden – wie mir kürzlich eine Mitarbeiterin im Vorstellungsgespräch erzählte.“ Und die Zahlen, die die Expertinnen im Gespräch einbringen, sind erschreckend. Im Schnitt dauert es sieben Jahre bei physischer Gewalt und 15 Jahre bei psychischer Gewalt in einer Beziehung – bis sich die Frauen Hilfe suchen.

Inzwischen ist auch eine weitere Form der Gewalt in Beziehungen ganz besonders auf dem Vormarsch: die digitale Gewalt, die meistens auch alle anderen genannten Formen der Gewalt begünstigt. Esken dazu: „Da sind viele Frauen – auch was die Gesetze betrifft – oft hilflos ausgeliefert, zum Beispiel beim digitalen Stalking. Es geht aber auch um das Orten der Frau über Air Tags oder das Handy. Es gibt versteckte Kameras – Nanny Cams – in der Wohnung oder auch automatische E-Mail- oder Anruf-Weiterleitungen. Whatsapp-Protokolle können ganz einfach weitergeleitet werden. Dem Mann entgeht dann gar nichts mehr.“ Auch Meier berichtet, wie massiv die digitalen Themen die Arbeit der Frauenhäuser beeinflusst: „Wir müssen ganz anders arbeiten. Im Erstgespräch mit einer Frau, die wir aufnehmen, konzentriere ich mich nicht – wie ich eigentlich sollte – darauf, sie psychisch zu stärken. Ich muss erst mal ganz viele technische Fragen stellen. Das ist gruselig, aber sonst laufen wir Gefahr, dass der Mann bei Einzug sofort weiß, wo die Frau ist. Wir treffen uns auch erst mal an einem neutralen Ort und mit einer Smartphone-App wird das Gepäck und auch das Auto gescannt. Handys müssen genau untersucht werden.“

Frauenhäuser brauchen bei Hilfe bei technischen Fragen

Die Frauenhäuser brauchen neue Schutzkonzepte. Denn die Mitarbeiterinnen vor Ort sind keine Experten in diesen technischen Fragen. Die Polizei macht solche Überprüfungen nicht, wie es heißt. Und Meier ergänzt: „Wir fragen genau nach, welche technischen Fähigkeiten der Mann hat. Wir fragen nach gemeinsamen Passwörtern für Anbieter wie Amazon. Das alles können Einfallstore für den gewalttätigen Ehemann sein. Gerade kürzlich kam eine Frau aus einem anderen Haus zu uns und da hatten wir die Infos, dass alles in Ordnung ist und hinterher kam heraus, dass der Ehemann monatelang die Mails mitgelesen hat.“ Evertz berichtet von einem Pilotprojekt, in dem aber deutschlandweit nur eine Handvoll Frauenhäuser teilnehmen können. Hier haben die Frauenhäuser dann die Möglichkeit, eine IT-Stelle zu kontaktieren: „Für mehr fehlen die Kapazitäten und das Geld. Ein weiteres Problem sind die Sprachbarrieren - wir können nicht lesen und verstehen, was das Telefon anzeigt.“

Esken beobachtet übrigens, dass sich in der Beratungsstelle zunehmend auch gebildete, studierte, Frauen aus gut verdienenden Teilen der Gesellschaft melden: „Wir stellen fest, dass hier die Frauen noch mehr diese Scham haben. Da fallen Sätze wie: Ich kann doch nicht die Polizei rufen – was denken die Nachbarn. Wir sind sehr angesehen im Ort und so weiter.“ Hier werde die wirtschaftliche Situation und der soziale Stand vom Täter ausgenutzt. Evertz bestätigt, dass in den Frauenhäusern hauptsächlich Frauen mit einem Migrationshintergrund leben, weil sie eben kein soziales Netz in Deutschland haben, das sie auffängt: „Das heißt aber eben nicht, dass nur diese Frauen Gewalt erleben. Es gibt auch Frauen, die haben Familie, Freunde und Geld. Da gibt es häufig andere Lösungen als das Frauenhaus, das häufig die letzte Option ist.“

Lange Wohnungssuchen blockieren Plätze im Frauenhaus

121 Frauen haben die Hilfsangebote der Beratungs- und Interventionsstelle in Bensheim im Jahr 2024 in Anspruch genommen, 22 Frauen haben mit ihren Kindern im Frauenhaus Schutz gesucht. Die Zahl der Ablehnungen für einen Platz lag bei 101 Frauen. Im Frauenhaus Erbach und der dortigen Beratungsstelle haben 155 Frauen Unterstützung gesucht. 23 Frauen davon haben mit ihren Kindern im Frauenhaus gelebt. Auch hier konnte nur jeder dritten Frau einen Platz angeboten werden. Es sei einfach sehr schwierig, für Frauen, die bereit sind, das Frauenhaus zu verlassen, eine Wohnung zu finden. Das blockiert wiederum Plätze.

Und dann ist alles eine Frage des Geldes. „Wir sind total unterfinanziert“, berichtet Evertz. „Die Beratungsstellen werden vom Land gefördert – ebenso wie die Frauenhäuser, die zusätzlich noch Mittel vom Kreis Bergstraße erhalten. Doch das ist zu wenig. Der Kreis lehnt es beispielsweise ab, die Beratungsstellen auch mitzufinanzieren. Dementsprechend haben wir nur zwei Teilzeitkräfte, eine ist Frau Esken, die die Beratungen leisten, aber zum Beispiel kaum Kapazitäten für dringend notwendige Präventionsarbeit haben.“ Im Kreis Bergstraße hat die Beratungsstelle die sogenannte Interventionsarbeit aus diesen Gründen eingestellt – auch um ein Zeichen zu setzen. Die Interventionsstelle erhält im Fall von häuslicher Gewalt von der Polizei die Kontaktdaten der Frau – wenn sie dem zugestimmt hat – und setzt sich innerhalb von 72 Stunden mit dem Opfer in Verbindung: „Diese Arbeit können wir mit unserem Personal gar nicht leisten und diese Arbeit wird auch nicht gesondert gefördert.“ Tina Meier berichtet, dass es in Erbach aktuell aufrechterhalten wird, aber auch hier sind die Zeit und die Mittel knapp.

Hilfsangebote auf vielen Wegen erreichbar

Und es gibt auch sehr niederschwellige Angebote für Frauen, die Gewalt erleben, wie Meier berichtet: „Wir haben ein Hilfetelefon in inzwischen 18 Sprachen, das Gespräch vor Ort und eine Online-Beratung. Da können sich die Frauen einen Alias-Namen geben und zu jeder Tages- und Nachtzeit schreiben – je nachdem, wann es ihr möglich ist, gefahrlos zu kommunizieren.“ Fast alle Homepages mit den Hilfeangeboten haben übrigens einen Schnellausstieg. Mit einem Knopf ist die Webseite geschlossen und aus dem Browserverlauf automatisch gelöscht.

Auch der Weg zur Polizei kann eine Lösung sein. Sie kann in einer Gefahrensituation vom Mann den Schlüssel zur Wohnung für 14 Tage einbehalten. Es gibt gerichtliche Optionen und Anwälte, die die Frauen unterstützen. Die Beratungsstellen helfen auch, wenn es darum geht, eine Trennung vorzubereiten. „Wir sind sehr gut vernetzt zu vielen anderen Stellen“, berichtet Evertz. Und Meier geht noch einen Schritt weiter und wünscht sich bei Hochrisiko-Fällen künftig institutionen-übergreifende Fallkonferenzen – wie es sie bereits in Rheinland-Pfalz gibt: „Es zeigt sich nach Femiziden oft, dass die Frauen schon viele Stellen kontaktiert haben, aber der Austausch hat einfach gefehlt.“

Ein Zitat fasst das Gespräch in der Bensheimer Beratungsstelle treffend zusammen. Es stammt von der Französin Gisèle Pelicot, die von ihrem Ehemann fast zehn Jahre betäubt und von Dutzenden fremden Männern in ihrem eigenen Haus vergewaltigt wurde. Sie gilt inzwischen als eine Art Ikone im Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Frauen. Sie sagte: „Die Scham muss die Seiten wechseln.“

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