Bergstraße. Elias ist fünf und ein lebhaftes Kind. Fröhlich flitzt er in der Frühförderstelle der Lampertheimer Lebenshilfe herum. Raus in den Garten und wieder rein. Zu Mama, zu Papa und dann wieder raus.
Dass er sich anders entwickelt als andere Mädchen oder Jungen, bemerken seine Eltern als Elias etwa zweieinhalb Jahre alt ist. „Es war ein schleichender Prozess. Elias hat sehr viel geschrien und sich selbst verletzt“, erinnert sich Mutter Marie Huguet im Gespräch mit dieser Redaktion. Der Kinderarzt verweist die Familie aus Lorsch an das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) der Darmstädter Kinderkliniken und rät den Eltern, sich zeitnah an die Frühförderstelle der Lebenshilfe zu wenden. Der Mediziner weiß, wie lange es dauert, dort Hilfe zu bekommen.
Einen Termin für die Erstberatung bei der Frühförderstelle in Lampertheim gibt es innerhalb von vier Wochen
Am SPZ bekommt die Familie eine Diagnose: Elias ist Autist. Die Frühförderstelle in Lampertheim, die für Familien im gesamten Kreis Bergstraße zuständig ist, kann zunächst nur ein Erstgespräch anbieten. Das bekommen die Eltern relativ schnell. Das sogenannte offene Beratungsangebot muss innerhalb von vier Wochen stattfinden, nachdem Eltern sich gemeldet haben. Auf konkrete Unterstützung in Form eines Therapieplans müssen die Huguets mehr als ein Jahr warten.
Die Nachfrage ist immens, mit steigender Tendenz. Bei immer mehr Kindern werden Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen diagnostiziert. Hilfe bekommen sie, so regelt es das Sozialgesetzbuch, in interdisziplinären Frühförder- und Beratungsstellen, wie die der Lebenshilfe in Lampertheim. Ziel ist es, eine drohende oder bereits eingetretene Behinderung „durch gezielte Förder- und Behandlungsmaßnahmen“ auszugleichen oder zu mildern – ab Geburt und bis zur Einschulung.
Auf therapeutische Hilfe warten Familien im Kreis Bergstraße bis zu zwei Jahre
Jeder kann sich vorstellen, wie wichtig es ist, Fehlentwicklungen oder Verzögerungen rasch entgegenzuwirken. Nicht umsonst hat der Gesetzgeber den Anspruch darauf geregelt. Doch wie so oft, reicht die finanzielle und personelle Ausstattung in den Kommunen und Landkreisen vor Ort nicht aus, um dem Bedarf gerecht zu werden. Die Lampertheimer Lebenshilfe führt eine lange Warteliste, Familien warten inzwischen knapp 24 Monate auf den Therapiebeginn. Zwei nicht genutzte Jahre in einem Zeitfenster von maximal sechs Jahren. Denn mit dem Schuleintritt endet der Anspruch auf die Frühförderung.
Familie Huguet wird seit gut einem Jahr von der Frühförderstelle betreut. Elias‘ Therapieplan sieht neben der heilpädagogischen Frühförderung noch Ergotherapie und Logopädie vor. Seine Sprache ist nicht altersgemäß. Doch sie wird besser, auch dank der unterstützten Kommunikation. Mit Hilfe von Wortschatzkarten lernt Elias immer mehr Wörter und deren Bedeutung kennen, und sie richtig einzusetzen. Neben dieser konkreten Arbeit mit dem Kind berät die Frühförderstelle die Eltern in ihrem Alltag und beispielsweise auch die Erzieherinnen in seiner Kita. Denn Kinder wie Elias sind herausfordernd, nicht nur für die Eltern, auch für andere Menschen in ihrem Umfeld. Ziel ist, dass die Familie in ihrem Alltag gut zurechtkommt. „Ohne die Unterstützung, die wir hier erfahren, wäre ich längst am Ende gewesen“, gesteht die 30-jährige Mutter.
Frühförder- und Beratungsstelle
- An die Frühförder- und Beratungsstelle können sich alle Eltern wenden, die sich um die Entwicklung ihres Kindes in den ersten sechs Lebensjahren sorgen.
- Die Stelle in Lampertheim ist für den gesamten Kreis Bergstraße zuständig. Alle Eltern und alle Kindertagesstätten im Kreis können sich dorthin wenden.
- Die offene Beratung ist kostenfrei und freiwillig .
- Alle Informationen unter lebenshilfe-lampertheim.de/fruehfoerder-und-beratungsstelle.
- Kontakt: Telefon 06206/94450, E-Mail: info@lebenshilfe-lampertheim.de. swa
„Unsere Arbeit ist ganz klar teilhabeorientiert“, erläutert Tim Langbein, Leiter der Einrichtung in der Lampertheimer Saarstraße. Dass durch die langen Wartezeiten so viele Chancen vertan werden, ärgert ihn und sein Team, das fünf Vollzeitstellen Sonder-, Sozial- und Heilpädagogen sowie zwei Stellen für Ergotherapie und eine halbe Stelle für Logopädie umfasst. Da diese Kapazitäten nicht ausreichen, gibt es zusätzlich Kooperationen mit Logopädie-Praxen. „Die langen Wartezeiten führen das Angebot einer Frühförder- und Beratungsstelle ad absurdum. Die Einrichtung ist im Vergleich zu vielen anderen Kommunen in Hessen insbesondere im pädagogischen Bereich deutlich unterbesetzt“, bilanziert Langbein in einem Jahresbericht für 2024, den er verfasst und dem Kreis Bergstraße als Träger vorgelegt hat.
Zurzeit kümmert sich das Team um etwa hundert Kinder. Weit über hundert weitere stehen auf der Warteliste. Der Kreis Bergstraße, der für die Umsetzung des Rechtsanspruchs zuständig ist, finanziert die Kosten für die pädagogische Arbeit zu hundert Prozent. Landesmittel stehen als ergänzende Finanzierung und für die Fachberatung in den Kindertagesstätten zur Verfügung, für die kein Rechtsanspruch besteht. Die medizinisch-therapeutische Arbeit wird über Heilmittelverordnungen abgerechnet. Für Tätigkeiten wie Supervision, Teamsitzungen, Fort- und Weiterbildungen, die die Krankenkassen nicht bezahlen, steuert der Kreis einen seit Jahren unveränderten Fixbetrag bei. „Die Lebenshilfe ist seit 40 Jahren Leistungserbringer für diese Pflichtaufgabe des Kreises“, erläutert Tim Langbein. Früher habe der Kreis auch das Defizit im medizinisch-therapeutischen Bereich übernommen. Inzwischen müsse der Verein diese Kosten selbst tragen. „Und er muss immer in Vorleistung treten. Da wird viel zwischenfinanziert“, ergänzt Jan Schäfer, Geschäftsführer des Vereins.
Der steigenden Nachfrage kann die Frühförderstelle in Lampertheim nicht gerecht werden
Diese finanziellen Sorgen sind das eine. Das andere ist die Tatsache, dass mit den fünf Vollzeitstellen die stetig steigende Nachfrage nicht mehr gedeckt werden kann. „Wir schaffen es nicht, den ganzen Kreis zu versorgen. Wir bräuchten mindestens doppelt so viele Kräfte“, so Schäfer. Dass das System längst nicht mehr stimmig ist, sei beim Kreis schon mehrmals angesprochen worden. Bisher leider ohne Erfolg. Um den Verantwortlichen beim Kreis die Lage zu verdeutlichen, hat Langbein den Jahresbericht verfasst. Dort untermauert er die Situation mit eindrücklichen Schaubildern und Statistiken. Auf diesen Bericht hat laut Langbein aber lange Zeit niemand reagiert.
Ende April hatte der Kreis auf Anfrage dieser Redaktion erklärt, dass die Frühförder- und Beratungsstelle Lampertheim „eine überaus wichtige Arbeit für den Kreis Bergstraße“ leistet. Eine längere Wartezeit – wie es sie zurzeit auch in anderen Bereichen der sozialen Dienste gebe – sei „höchst bedauerlich“ und stelle die Betroffenen vor große Herausforderungen, heißt es weiter. Die letzten Jahre hätten einen deutlichen Anstieg bei den Fallzahlen in vielen Leistungsbereichen gezeigt. Da rückwirkend zum 1. Januar 2025 die Hessische Landesrahmenvereinbarung zur Früherkennung und Frühförderung abgeschlossen worden sei, könne nun gemeinsam mit der Frühförderstelle beraten werden, „wie es weitergeht und welche Anpassungen nötig, möglich und geboten sind“. Hierzu sollen in den kommenden Monaten Gespräche stattfinden, die zu einer deutlichen Veränderung beziehungsweise Verbesserung führen werden.
Ein erstes Gespräch gab es laut Tim Langbein Anfang Mai. Da ging es um die Zuständigkeiten beim Kreis. Bisher ist für die Frühförderstelle das Sozialamt zuständig. Aus Sicht der Experten ist das ungünstig, weil alle anderen Hilfen für Kinder und Familien beim Jugendamt angesiedelt sind. Hier etwas anzupassen, wäre ein erster Schritt. Damit allen Familien, die wie die Huguets ein Recht auf Unterstützung haben, zeitnah geholfen werden kann, wird es viele weitere brauchen. Damit auch sie wie Marie Huguet erleben können, dass ihr Kind Fortschritte macht. Und sagen können: „Dank der Frühförderstelle habe ich nie das Gefühl, allein zu sein.“
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