Bergstraße. Sechs Außenspiegel hat ein moderner Lkw. Neben den Haupt- und Weitwinkelspiegeln gehört dazu auch ein Rampenspiegel an der Beifahrerseite oberhalb des Fensterausschnitts. In diesem ist das Umfeld vom vorderen Stoßfänger bis zur Beifahrertür sichtbar – und damit auch der Radfahrer oder Fußgänger, der sich dort aufhält und beim Rechtsabbiegen des Lkw möglicherweise gefährdet ist. Theoretisch sind damit alle dunklen Flecken einsehbar. In der Praxis bleibt es schwierig.
Lieber stehenbleiben und warten
„Im Zweifel lieber stehenbleiben und warten“, empfiehlt Jan Gaede dringend jedem Radfahrer, der sich rechts neben einem rechts abbiegenden Lkw befindet. Der Kölner ist Berufskraftfahrer und kennt das Problem aus dem Alltag. „Kein Fahrer kann jeden Winkel gleichzeitig überblicken“, betonte der Profi in Bensheim. Daher müsse man trotz eines halben Dutzends Spiegel am Fahrzeug immer damit rechnen, nicht gesehen zu werden. Gaede rät dazu, immer den Blickkontakt mit dem Fahrer zu suchen, auch über die Außenspiegel. Denn sicher ist sicher. „Die Kollegen sind oft unter erheblichem Zeitdruck in hoher Verkehrsdichte unterwegs“, verweist er auf die psychische Belastung im Cockpit, die eine lückenlose Rundumsicht oftmals erschwere. Grundsätzlich sei defensives Fahren stets die beste Lösung. „Wir müssen alle an einem Strang ziehen und aufeinander achtgeben“, so der Mann mit dem Brummi, der am Samstag mitten in Bensheim geparkt hatte.
Über die Gefahren des toten Winkels informierte fünf Stunden lang eine öffentliche Veranstaltung auf dem Beauner Platz. Der Kraftfahrerkreis (KFK) Südhessen hatte gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi, der Polizei Südhessen und dem DGB Hessen-Thüringen eingeladen, um Verkehrsteilnehmer für das Thema zu sensibilisieren und so das Unfallrisiko zu reduzieren.
„Wir sind alle nur Menschen“
Der Blick aus dem Führerhaus eines Lkw war dabei in vielerlei Hinsicht erhellend, weil er die perspektivische Komplexität verdeutlichte, mit der es ein Berufskraftfahrer permanent zu tun hat. „Wir sind alle nur Menschen und können trotz langjähriger Praxis Fehler machen“, betonte Jan Gaede, der im Straßenverkehr für ein gutes und aufmerksames Miteinander plädiert.
Es sei wichtig, dass alle Verkehrsteilnehmer über eine solche Situation aufgeklärt werden. Besonders Zweiradfahrer bewegten sich häufig im toten Winkel eines Lkw, erläuterte Franco Filippone, Gründer des Verdi-Kraftfahrerkreises Südhessen.
An den Informationsständen rund um das Thema Verkehrs- und Fahrradsicherheit ging es neben allgemeinen Themen ganz konkret um die Situation von Fahrrad- und Pedelec-Fahrern. Auf einem Fahrradsimulator konnte jeder die Problematik des toten Winkels selbst wahrnehmen. Denn ein Schulterblick durch das rechte hintere Fenster ist bei einem Lkw nicht möglich; zudem ist die Sitzposition weitaus höher als in einem normalen Fahrzeug. Im Zweifel sollten geradeaus fahrende Radler auf ihre Vorfahrt verzichten, um Kollisionen zu vermeiden, sagte auch Jens Womelsdorf, Regionalbeauftragter für Hessen im Auto Club Europa (ACE).
Problemfeld Pedelecs und E-Bikes
Die Polizei beleuchtete das Thema Sicherheit noch aus einer anderen Perspektive. Ein Schwerpunkt galt E-Bikes und Pedelecs, die den Fahrer mit einem Elektroantrieb unterstützen. Während Pedelecs als Kombination von Muskelkraft und E-Motor bis zu einer Höchstgeschwindigkeit von maximal 25 Stundenkilometern wie Fahrräder behandelt werden, ist bei einigen Bikes mindestens eine Mofa-Prüfbescheinigung erforderlich. Schnelle Pedelecs bis Tempo 45 werden als Kraftfahrzeuge definiert, die ein eigenes Versicherungskennzeichen benötigen.
Die Polizei warnt vor Billig-Versionen aus China, die oft bereits für rund 1000 Euro verkauft werden. Sie erfüllen nicht die Vorgaben für die technische und mechanische Sicherheit und sind meist schneller, als die Polizei erlaubt, da sie nicht bei einer Maximalgeschwindigkeit abriegeln oder die Steuerung über einen Gasgriff erfolgt, der nicht bei sechs Stundenkilometern abschaltet. Dieses Detail macht aus dem vermeintlichen Elektrofahrrad aber rechtlich ein Kraftfahrzeug. Diese Bikes entsprechen nicht den europäischen Normen.
Auch Probleme mit der Versicherung sind programmiert, so Axel Geppert von der Direktion Verkehrssicherheit (DVS) beim Polizeipräsidium Südhessen. Die Spezialisten erkennen illegale Bikes sofort und ziehen solche Modelle regelmäßig aus dem Verkehr – auch deshalb, weil die Rahmen der meisten Billig-Importe überhaupt nicht für schnellere Geschwindigkeiten ausgelegt sind, betont Geppert.
Immer mehr Tuning-Fälle
Aber auch die Fälle von getunten E-Bikes nehmen immer weiter zu. Der Polizei fallen immer mehr frisierte Elektro-Räder auf, die sich außerhalb des sicherheitsrelevanten Rahmens bewegen. Mit speziellen Bausätzen aus dem Internet kann das Limit von Tempo 25 überwunden werden. Der Verkauf solcher Kits ist legal, der Einbau und Betrieb im öffentlichen Verkehrsraum allerdings verboten. Meistens handelt es sich dabei um Tuning-Module, Chips oder Aufsteckboxen. Die Polizei erkennt solche Veränderungen mittlerweile recht schnell und reagiert konsequent.
Wie wichtig der richtige Umgang mit den modernen Bikes ist, betonte auch der Bergsträßer Händler Tord Steinbock. Er betreibt Fachgeschäfte in Lorsch und Bensheim und bietet neuerdings E-Bike-Akademien an, bei denen ein sicheres Handling in der Praxis trainiert wird. „Man braucht ein Gefühl für diese Räder, um auch in Gefahrensituationen schnell und sicher handeln zu können.“
Immer niedrigere Löhne bei ständig steigendem Druck
Die Kraftfahrerkreise Deutschland sind selbstorganisierte Berufs-Kraftfahrer und bundesweit regional organisiert. Gemeinsam haben die 16 Regionalverbände jetzt ein Positionspapier erarbeitet, um die Arbeitsbedingungen in der Branche nachhaltig zu verbessern.
Die Lkw-Fahrer kritisieren immer niedrigere Löhne und sinkende Frachtraten bei ständig steigendem Druck, so Juan Pedro Garcia in Bensheim. Die Folge: Fachkräfte brechen weg und werden durch Personal aus meist osteuropäischen Ländern ersetzt, das zu niedrigen Sozialstandards arbeitet. Zu den 27 Forderungen gehören unter anderen bessere Arbeitsbedingungen und ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag.
Bei den kommenden Tarifverhandlungen im Bereich Spedition und Logistik im Januar wollen die Gewerkschaften für höhere Löhne kämpfen: „Der bestehende Tarifvertrag ist stark veraltet“, so Gewerkschaftssekretärin Nicole Lämmerhirt von Verdi Südhessen. „Gute Löhne fallen nicht vom Himmel, sie müssen erkämpft und verteidigt werden“, sagt ihr Kollege Horst Raupp vom DGB Südhessen. Die Pandemie habe gezeigt, wie entscheidend die Logistik als drittgrößter Wirtschaftszweig für die Versorgung der Bevölkerung und Wirtschaft ist. Doch die Löhne und Gehälter liegen laut Raupp weit unter der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung der Branche. Trotz Boom rangierten die Löhne und Gehälter noch immer auf einem relativ niedrigen Niveau. Die ist laut Gewerkschaften nicht akzeptabel. tr
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