Darmstadt/Bergstraße. „Leider sind Technik und Erfinden keine Schulfächer“: Professor Jens Schneider wünscht sich, dass kreatives Entwickeln und naturwissenschaftliche Praxis auf dem hessischen Lehrplan eine prominentere Rolle spielen würden. Denn der Vizepräsident der TU Darmstadt (TUD) weiß, dass die großen Herausforderungen der Zukunft ohne engagierte Nachwuchsforscher kaum zu bewältigen sind.
Umso mehr freute er sich über die 16 Oberstufenschüler – acht Mädchen und acht Jungen –, die sich in der vergangenen Woche intensiv mit einem der elementaren Themen der nächsten Jahrzehnte beschäftigt haben: der Energiewende. Es ging um nachhaltige Lösungen, alternative Technologien und innovative Konzepte für die Welt von morgen: Beim 31. Erfinderlabor des Zentrums für Chemie (ZFC) waren auch diesmal wieder Ausnahmeschüler aus ganz Hessen mit dabei, um im engen Dialog mit Wissenschaftlern im professionellen Umfeld zu experimentieren und ihre Ergebnisse dann verständlich und lebendig einem größeren Publikum zu präsentieren. Die Abschlussveranstaltung hatte aufgrund der aktuellen Situation erneut im virtuellen Format stattgefunden. Doch auch auf der Online-Bühne machten die jungen Forscher eine hervorragende Figur.
Finale beim Unternehmerverband
Übertragen wurde das Finale aus dem Sitz des Unternehmerverbands Südhessen in Darmstadt. Die vier Tage zuvor verbrachten die Schüler in den Laboren des Instituts für Materialwissenschaft an der TUD, um sich in vier Teams mit anspruchsvollen wissenschaftlichen Komplexen zu beschäftigen.
Unter den erfolgreichen Jungforschern war Nils Conradi von der Karl-Kübel-Schule in Bensheim: „Das Erfinderlabor hat uns herausgefordert – auch im zeitlichen Sinn. Ich glaube nicht, dass ich in einer Nacht sieben Stunden Schlaf bekommen habe. Aber nicht nur die Arbeit an unseren Gruppenthemen hat die Stunden für sich beansprucht, auch gemeinsame Aktivitäten bis spät in die Nacht hinein waren die Regel. Das gute Gemeinschaftsklima hat die Zeit zu einem Erfolg gemacht.“
Eine Workshop-Reihe des Zentrums für Chemie
Das Erfinderlabor ist eine Workshop-Reihe des Zentrums für Chemie (ZFC).
Seit dem Jahr 2004 entwickelt und organisiert der gemeinnützige Verein in Kooperation mit Schulen, Hochschulen, Unternehmen, Verbänden, Stiftungen und Ministerien Projekte, um über die Vermittlung einer naturwissenschaftlichen Grundkompetenz hinaus gesellschaftlich relevante Themen wie Klimaschutz, Energiewende und Ressourceneffizienz in den Unterricht der MINT-Fächer Chemie, Physik, Mathematik, Biologie und Informatik zu integrieren und mit klassischen Unterrichtsinhalten zu verzahnen.
Damit sollen fachliche Grundlagen für eine individuelle Meinungsbildung ermöglicht und Perspektiven für neue Berufsfelder konkret vermittelt werden.
Das Erfinderlabor ist Teil der ZFC-Initiative „Schule 3.0 – MINT for Future“.
Ziel ist eine bessere berufliche Orientierung von Schülern im MINT-Umfeld mit den verzahnten Disziplinen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik durch eine Einbindung gesellschaftsrelevanter naturwissenschaftlich-technischer Themen in den Regelunterricht. tr
Am Ende gab es das geballte Lob der Profis: Professor Lambert Alff (Fachgebiet Dünne Schichten) betonte das hohe Niveau der Abschlusspräsentationen, Gregor Disson, Geschäftsführer vom Verband der Chemischen Industrie (VCI) in Hessen, war von der gelungenen Teamarbeit begeistert. „Das war eine straff organisierte Arbeitsteilung wie im industriellen Umfeld.“
Homogene Gemeinschaftsleistung
Auch Tanja Scharnhoop von der Landesenergieagentur Hessen attestierte den bunt gemixten Arbeitsgruppen eine homogene Gemeinschaftsleistung: „Ihr habe euch hier erst kennengelernt, und habt doch mit einer Sprache gesprochen – der Sprache der Wissenschaft.“
ZFC-Vorstand Thomas Schneidermeier, der Erfinder des Erfinderlabors, verwies auf die enge inhaltliche Verbindung der eigenen Projekte mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (UN): „Das ZFC steht für Wissenstransfer und Nachhaltigkeit.“ Neben der thematischen Fokussierung gehe es bei dem Workshop darum, die Teilnehmer bei der Entwicklung einer individuellen Bewertungskompetenz zu unterstützen.
Dieser Ansatz spiegelt sich auch im neuen ZFC-Format „Frag die Minties“, bei dem Erklärvideos von den Studierenden und ehemaligen Erfinderlaborteilnehmern Benjamin Kunkel, Selina Müller, Pablo del Rio und Joelina Gärtner im MINT-Bereich ( (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) als Ergänzung zu den vom ZFC passgenau entwickelten Unterrichtssequenzen für Lehrer produziert werden.
Fragen für eine bessere Zukunft
„Ich erkenne heute ein wichtiges Zeichen der Zuversicht und der Inspiration“, so Thomas Eberle, der beim Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck in Darmstadt unter anderem für Bildungspartnerschaften im Bereich der Naturwissenschaften zuständig ist. In schwierigen Zeiten wie diesen mit einer andauernden Pandemie und einem folgenschweren Krieg in Osteuropa sei es umso wichtiger, dass sich die junge Generation mit grundsätzlichen Fragen für eine bessere Zukunft auseinandersetze, so Eberle, der selbst lange in der stark interdisziplinär geprägten Materialforschung gearbeitet hat. Das Thema Nachhaltigkeit sei auch in den Wissenschaften allzu lange vernachlässigt worden. „Das holen wir heute nach. Zum Beispiel mit einem hervorragenden Format wie dem Erfinderlabor.“
Spannende Einblicke gewonnen
Nicht nur die Experten aus Hochschule, Forschung und Wirtschaft waren mit dem Verlauf der Woche, dem Engagement der Teilnehmer und ihren kurzweilig dargestellten Forschungsergebnissen sehr zufrieden. Auch die Schüler selbst bilanzierten eine facettenreiche Zeit in den Darmstädter Laboren mit spannenden Einblicken in das Innenleben der modernen Wissenschaft, von denen sie auch in puncto Berufsorientierung profitiert haben.
Doch auch das konzentrierte letzte Feilen an den Teamvorträgen am Abend vor der Abschlusspräsentation gehört zur traditionellen Dramaturgie des Erfinderlabors.
Denn die Themen hatten es in sich. Die Teams gingen der Frage nach, ob und wie sich Solarzellen selbst reinigen können, um mehr Energie zu erzeugen, oder wie die Batterie von morgen aussehen muss, um die Reichweiten zu erhöhen und so die Mobilitätswende voranzubringen. Auch die Rolle des Wasserstoffs als energetische Alternative wurde untersucht.
Es muss weiter geforscht werden
Andere Schüler verglichen klassische Klimaanlagen mit Varianten, die von rotierenden Magneten betrieben werden und ohne ökologisch problematisches chemisches Kältemittel auskommen. Fazit des Teams: Eine effiziente Technologie, die aber aufgrund ihrer aufwendigen Herstellung noch keine Ideallösung darstellt. Hier muss weiter geforscht werden.
Aber auch der Bau eines Lithium-Ionen-Akkus gehörte zum kleinen Einmaleins der jungen Wissenschaftler, die auch einen prominenten jungen MINT-Kollegen überzeugt haben. Jacob Beautemps will junge Menschen für die Naturwissenschaften begeistern. Damit war der Kölner beim Erfinderlabor goldrichtig. Seit 2018 steht der studierte Physiker für seinen YouTube-Kanal Breaking Lab vor der Kamera, wo er jeden Monat über 1,6 Millionen Videoaufrufe verzeichnet. „Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Wissen wird immer wertvoller, und Wissenschaftskommunikation ist ein Schlüssel für den Fortschritt.“ Von seinen überdurchschnittlich begabten jungen Kollegen war der 29-jährige Science-YouTuber und Forscher sehr beeindruckt: „Es ist stark, was ihr macht. Davor habe ich einen riesen Respekt!“
Berufsorientierung
Flankiert wurde das umfangreiche Programm am Abschlusstag, das im virtuellen Studio von Joachim Brötz (TUD) moderiert wurde, von einer Gesprächsrunde zum Thema Berufs- und Studienorientierung. Der Geschäftsführer der Landesenergieagentur (LEA) Hessen, Karsten McGovern, skizzierte die Karrierechancen im naturwissenschaftlich-technischen Umfeld und betonte, dass auch so mancher kurvenreiche Lebenslauf ans Ziel führen kann.
Für die Wissenschaftlerin Stephanie Ganss, die unter anderem an organischen Leuchtdiode (OLED) forscht, waren die breitgefächerten Perspektiven und die internationale Ausrichtung des Unternehmens Merck die zentralen Gründe für ihre Berufsentscheidung. Christine Erb studiert am Institut für Materialwissenschaft und rät angehenden Kommilitonen, ihre Leidenschaft für die MINT-Fächer im akademischen Kontext auszuleben und sich von der Komplexität des Studiums nicht unterkriegen zu lassen. „Wissenschaftliches Arbeiten bedeutet auch Scheitern und Neubeginn“, so Gregor Disson, der für den VCI das Erfinderlabor schon seit vielen Jahren begleitet und unterstützt.
Newsletter "Guten Morgen Bergstraße"
ZFC-Vorstand Thomas Schneidermeier dankte allen Sponsoren und Kooperationspartnern für die Unterstützung des Workshops, der seit 2005 einen konstant hohen Zuspruch erlebt. Die alternativen Formate seit Beginn der Pandemie konnten daran nichts ändern. Wie immer wurden alle Teilnehmer mit Zertifikaten und einem digitalen Jahresabo von Spektrum der Wissenschaft belohnt.
„Schüler wie diese sind nicht nur unsere Zukunft, sondern auch unsere Hoffnung“, so Thomas Eberle (Merck) zum Abschluss des 31. Erfinderlabors. Der nächste Workshop findet vom 11. bis 15. Juli in Marburg zum Thema „Erneuerbare Energien und Wasserstoff“ statt.
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