Der Abriss der Haupttribüne im Merck-Stadion am Böllenfalltor hat begonnen – der nächste Meilenstein für den Fußball-Zweitligisten SV Darmstadt 98 und die Entwicklung seiner Infrastruktur.
Am Montag hat ein Recyclingunternehmen die Arbeiten aufgenommen. Bis Ende Oktober erfolgt in einem ersten Schritt die Entkernung und im Anschluss daran der Rückbau der im Jahr 1975 errichteten Haupttribüne, die marode und schon längst nicht mehr zeitgemäß ist. Ab November starten der Rohbau und anschließend der Stahlbau. Diese beiden Gewerke wurden ebenfalls bereits ausgeschrieben und sind vergeben. Auch die weiteren anstehenden Gewerke werden für diesen Bauabschnitt einzeln vergeben.
Präsident Rüdiger Fritsch nannte den Abriss und Neubau der Haupttribüne bei einem Mediengespräch auf der Baustelle gestern „alternativlos“. Der Vereinsboss weiter: „Für die über 40 Jahre alte Tribüne hätten wir kurz- beziehungsweise mittelfristig im jetzigen Zustand keine Betriebserlaubnis mehr erhalten. Für Erhaltungsmaßnahmen wären Summen im mindestens mittleren siebenstelligen Bereich nötig geworden, ohne einen Mehrwert zu schaffen.“
Um in die Zukunft und damit nachhaltig in die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte der Lilien zu investieren, habe die Entscheidung daher nur für einen Neubau fallen können. „Die Tribüne“, so der Lilien-Präsident, „wird nach Fertigstellung moderne Räume für Sport, Sponsoren, Medien, Sicherheitsträger und auch für Menschen mit Behinderung bieten und dem SV 98 zudem zeitgemäße Vermarktungsmöglichkeiten für seine Partner bieten.“
Der Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch fügte hinzu: „Der Umbau des Böllenfalltorstadions ist etwas Besonderes in der deutschen Stadionlandschaft. Die Wissenschaftsstadt Darmstadt ist Partnerin der Lilien und beteiligt sich an den Umbaukosten mit einem Investitionskostenzuschuss in Höhe von 21 Millionen Euro.“
Der städtische Zuschuss sei als Kompensation für die zuvor bei der Stadt anfallenden regelmäßigen Kosten für Betrieb, Instandhaltung und Sanierung des Stadions vereinbart worden. Partsch: „Wir stehen in einer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft der Lilien. Der Verein, die Mannschaft und die Fans sind Botschafter und Sympathieträger für Darmstadt. Ich freue mich, dass nach der Gegengerade nun das letzte Stadionprojekt auf den Weg gebracht und solide finanziert wird.“
Ein weiterer Baukostenzuschuss in Höhe von 3,5 Millionen Euro kommt von Land Hessen. Die restlichen bis zu 22,2 Millionen Euro investiert der SV 98 mit Eigen- und Fremdkapital.
Auch das sei eine bundesweite Besonderheit, verwies Vereinspräsident Fritsch gestern auf der Baustelle auf Stadionprojekte in anderen Städten, bei denen die öffentliche Hand die komplette Finanzierung oder zumindest sehr viel größere Teile der Kosten trage.
Die Fertigstellung der Haupttribüne ist für den Beginn der Fußball-Saison 2022/23 geplant. Die neue Haupttribüne wird circa 2900 Besucherplätze inklusive 19 Logen und 850 bis 900 „Business-Seats“ fassen. Die Kosten für Neubau der Haupttribüne belaufen sich auf 23,7 Millionen Euro zuzüglich eines Kostenpuffers von drei Millionen Euro.
Die Gesamtkosten für den Stadionumbau inklusive der Gegentribüne und umfassender Umfeldmaßnahmen betragen 46,7 Millionen Euro.
Riesenjubel über Aufstiege, lähmendes Entsetzen über Abstiege
Was hat die alte Haupttribüne nicht alles erlebt in den viereinhalb Jahrzehnten ihres Bestehens. Spitzenfußball in den insgesamt vier Bundesliga-Spielzeiten, in denen die Lilien im Oberhaus mitspielen durften, war ebenso dabei wie enttäuschende Grottenkicks im Abstiegskampf. Zu Bundesligazeiten fluteten die Fans das weite Stadionrund zu Zigtausenden, in der Viertklassigkeit konnten die Verantwortlichen die wenigen Unentwegten fast einzeln mit Handschlag begrüßen.
Aber gehört das nicht zu einem altehrwürdigen Stadion dazu? Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt? Diese Emotionen machen den Fußball schließlich aus. Wer es als Fan nicht selbst im Stadion miterlebt hat, der hat mit Sicherheit mit leuchtenden Augen berichtet bekommen vom 7:0 über den 1. FC Nürnberg im Mai 1973, mit dem die Lilien erstmals Süddeutscher Fußballmeister wurden. Und vielleicht kennt er sogar einen der wenigen Fans, der eine der dunkelsten Stunden der Vereinsgeschichte live mit erlitten hat: Das 0:2 gegen den SC Weismain im Frühjahr 1998, das zum ersten Abstieg der Darmstädter nach dem Zweiten Weltkrieg in die Viertklassigkeit führte.
Damals ahnte niemand, dass damit ein Vierteljahrhundert immer hart am Rand der fußballerischen Bedeutungslosigkeit begonnen hatte. Die Lilien pendelten zwischen Regionalliga und Oberliga Hessen hin und her – bis ihnen unter Trainer Kosta Runjaic 2011 der Aufstieg in die dritte Liga gelang und schließlich unter Trainer Dirk Schuster ab 2013 der wundersame Aufstieg bis in die Bundesliga seinen Anfang nahm, wo er im Klassenerhalt im Jahr 2016 seinen Höhepunkt fand.
Die Jahre der Stadion-Debatten
Neben diesem fußballerischen Auf und Ab bewegte die Fans aber über Jahrzehnte auch die Stadionfrage. Denn wäre es nach den Anhängern gegangen, wäre das marode „Bölle“ längst saniert, modernisiert oder zumindest nachhaltig aufgefrischt worden. Nichts dergleichen geschah in dem Stadion, das der Verein in höchster finanzieller Not im Jahr 1988 für 2,18 Millionen Mark (circa 1,1 Millionen Euro) an die Stadt Darmstadt verkauft hatte. Stattdessen verloren sich die Verantwortlichen im Rathaus in Diskussionen über einen Stadion-Neubau am alten Standort, in Gutachten zu einem Neubau auf anderen Flächen im Stadtgebiet und schließlich in Debatten über eine Sanierung und Modernisierung im Bestand.
Die sportlichen Erfolge der Lilien öffneten dem Vereinsvorstand aber auch eine Tür zur Lösung der Stadionfrage: Die 98er gründeten eine Gesellschaft für den Stadionbetrieb und übernahmen Anfang 2018 die Spielstätte wieder in Erbpacht von der Stadt.
Dieser Schritt war auch die Grundlage für den nun tatsächlich anlaufenden Umbau des Stadions, dessen Nord- und Südkurve im Herbst 2016 schon durch Stahlrohrtribünen erweitert worden war. An die Böllenfalltorhalle anschließend entstand ein Funktionsgebäude. Im Dezember 2018 begann der Abriss der Gegengerade. Auf der neuen Tribüne auf der Gegengeraden konnten die Fans Anfang dieses Jahres schon bei ein paar Spielen ihre Lilien anfeuern – bis Corona kam. seg
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/region-bergstrasse_artikel,-bergstrasse-der-abschied-vom-alten-boelle-hat-begonnen-_arid,1673802.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/vereine_verein,_vereinid,5.html